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Boote im Porträt4 min Lesezeit

Die Wiederentdeckung der Charme

Ein Blick hinter die Kulissen des zunehmend gefragten Retrostils

Die Wiederentdeckung der Charme
Eine 'Truly Classic 90' mit eleganten Überhängen © Hoek Design

Beim modernen Segelboot geht es um praktische Gesichtspunkte wie Komfort, Platz und Tankgröße. Der hochbordig-breite Rumpf bringt unter Deck Volumen, oben Decksfläche. Zwischen dem senkrechten Vorsteven und dem ebenso steilen Heck lässt sich die längstmögliche Wasserlinie unterbringen. Sie lässt das Boot ruhig im Wasser liegen und ergibt die maximale Rumpfgeschwindigkeit. Jeder Zentimeter zählt. Dieses allgegenwärtige Design gibt es vom trailerbar kleinen Kajütboot bis hin zur sehr großen Segelyacht.

Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 04.01.2016

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • Informationen über die Ursprünge des Retrostils
  • Welche yachtbaulichen Herausforderungen in diesem Konzept stecken
  • Welche Vor- und Nachteile die Rumpfform von Retroseglern hat

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Leider hat dieses praktische Design zwei Haken. Jedes moderne Boot sieht heute so aus. Und es sind zwei entscheidende Gesichtspunkte über Bord gegangen: der Charme und die Eleganz.

Deshalb entstehen seit den neunziger Jahren Boote, die beinahe wie früher aussehen: Sie beginnen mit einem ansehnlichen Löffelbug. Ihre charmant geschwungene Deckskante führt zu einem aparten Überhang mit klassisch geneigtem Yachtheck. Darüber erhebt sich ein ebenfalls herrlich antiquiertes, kastenförmiges Deckshaus. In Holland, wo sie meist gezeichnet wurden, werden diese Boote "nieuwe klassiekers“ genannt.

Obwohl diese Yachten wie von gestern aussehen, sind sie es nicht. Ihre antiquierte Form endet an der Wasserlinie. Es sind keine traditionell langkieligen Rümpfe mit V-förmig tiefer Spantform, sondern flache U-Spanter mit modernem Flossenkiel und separatem Ruder. Das hat mehrere Vor- aber auch Nachteile.

Die moderne Kiel- Ruderkonfiguration kommt den Segeleigenschaften zugute. Zugleich bringt sie Spurtreue mit Wendigkeit in Einklang. Der zwischen Kiel und Ruder wirkende Propeller punktet mit ausgezeichneter Manövrierfähigkeit – ganz im Unterschied zum klassischen Langkieler, wo die Rückwärtsfahrt ein Lotteriespiel mit ungewissem Ausgang ist.

Die Nachteile: Der U-spantig flache statt V-förmig tiefe Rumpf hat keine Bilge wie der klassische Langkieler. Damit fehlt der Platz für gerade bei Fahrtenschiffen wichtige Tanks mit günstigem Schwerpunkt mittschiffs. Der norddeutsche Yachtkonstrukteur Georg Nissen, der mehrere Retro-Boote in diesem Stil und auch den viel bewunderten 22 m Renner "Heaven can Wait“ gezeichnet hat, macht noch auf einen weiteren Gesichtspunkt aufmerksam: „Damit sich zwischen dem flachen Bootsboden und dem Flushdeck die wünschenswerte Stehhöhe unterbringen lässt, gibt es für diese Boote eine Mindestlänge von etwa 60 Fuß. Man kann das nicht mit einem angehobenen Freibord ausgleichen, weil der Rumpf dann zu gedrungen aussieht“ sagt Nissen. Je länger diese Retroschlitten sind, desto besser sehen sie mit ihrem niedrigen Freibord und den eleganten Überhängen aus. Im Idealfall steckt ein Viertel bis ein Drittel der Länge in den Überhängen.

Übrigens ist die Idee ein ziemlich alter Hut. Der pfiffige Mix aus traditionellem Über- und modernem Unterwasserschiff ist mittlerweile 45 Jahre alt. 1970 zeichnete der Londoner Bootskonstrukteur Robert Clark die „British Steel“ für den Einhandweltumsegler Chay Blyth. Blyth segelte mit dem 18 m Stahlschiff 1970/71 nonstop, gegen übliche Windrichtungen und Strömungen erstmals Einhand von Ost nach West um die Welt. Es war eine Art Feuerprobe für den damals noch von Traditionalisten skeptisch gesehenen modernen Lateralplan.

Anfang der Neunziger Jahre entwickelte der holländische Konstrukteur Andre Hoek mit seinen Hoek Design "Truly Classics“ ein Baukastensystem individualisierbarer Kleinstserien-Konstruktionen so genannter "Semi Customs“, die dem Konstrukteur, der Werft und dem Eigner Zeit und Geld sparen. Wenn etwas schon mal gebaut wurde und sich bewährt hat, muss es nicht neu erfunden werden. Zwölf Truly Classic Typen von 51 bis 128 Fuß sind mittlerweile unterwegs. Natürlich setzen auch andere Konstrukteure und Werften das Rezept für das beste zweier Welten auf ihre Weise um. Georg Nissen beispielsweise trieb mit der "Heaven can Wait“ den Mix aus gestrigem Charme und gegenwärtigem Bootsbau ziemlich weit. Ein hydraulisch bewegter Hubkiel bringt Segelleistungen (Tiefgang) mit Buchten- und Hafentauglichkeit (wenig Tiefgang) in Einklang.

Oben schön von gestern und unter Wasser modern: Seitenansicht einer 'Truly Classic 78'
Oben schön von gestern und unter Wasser modern: Seitenansicht einer 'Truly Classic 78' © Hoek Design

Leider sind auch Kleinstserienerzeugnisse aus Stahl, Aluminium oder Holz neu teuer, außerhalb der Reichweite der meisten Segler. Umso erfreulicher, dass gelegentlich welche gebraucht angeboten werden. Sei es altershalber, oder weil die Eigner über ein größeres Exemplar nachdenken. Man kommt halt schwer vom Genuss, mit so einem Schlitten durchs Meer zu preschen, los. Und es ist eine wahre Freude, sich so eine Schönheit irgendwo an einem Strand beim Ankern anzugucken. Man glaubt, einen Gentleman-Segler der Dreißiger Jahre vor sich zu haben.

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VG