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Der Gebrauchtbootsegler Bill Tilman

Die abenteuerlichen Törns des englischen Extrembergsteigers

Der Gebrauchtbootsegler Bill Tilman
«Mischief» 1955 in Patagonien © Archiv HW Tilman

Der Expeditionssegler H.W. Tilman machte aus gebrauchten Booten allerhand. Tilman segelte im fortgeschrittenen Alter 160 Tausend Meilen, hatte mit gelegentlich verlorenen Schiffen aber auch einen gewissen Verschleiß.

Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 15.02.2017, aktualisiert am 08.09.2023

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • Einblick in das Leben des Extrembergsteigers und -seglers Harold William Tilman
  • wie Tilman mit der Querung Patagoniens zu Fuß das Segeln mit seiner Passion für unberührte Wildnis verband
  • die mysteriösen Umstände seines Verschwindens 1977 im Südatlantik

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Anno 1953 begreift der langjährige Extrembergsteiger Harold William „Bill“ Tilman, dass er mit Mitte Fünfzig langsam aber sicher zu alt für die Achttausender der Erde ist. Bereits in den dreißiger Jahren hatte er es ohne Sauerstoff-Flasche fast zum Gipfel des Mount Everest geschafft und manch weitere alpinistische Pioniertat in großen Höhen vollbracht. Doch interessiert sich neuerdings die halbe Welt für den Himalaya. Der Abenteurer braucht neue Ziele: Gegenden, die auf der Karte mit dem Hinweis „inesplorado“, als unerkundet bezeichnet sind.

Außerdem gibt es fabelhafte Geschichten von Feuerland: Dass dort Bäume auf Gletschern wachsen, Kolibris, Papageien und Pinguine leben. Auch interessiert Tilman, dass den Eingeborenen nach dem Genuss von Marmelade angeblich „der Kopf rauche“. Das muss sich der englische Jam-Eater mal ansehen. Außerdem ist noch niemand von Ost nach West über das Eis Patagoniens gelaufen. Also muss Tilman da mal hin.

Jedes Vorhaben lässt sich auf der Rückseite eines Briefumschlags planen

HW Tilman

Anstelle einer teuren Fahrkarte für die Reise nach Feuerland kauft Tilman in Mallorca einen gebrauchten Lotsenkutter. Das Boot ist bewährt, aus Holz, etwa so alt wie der 1898 geborene Tilman - und günstig. Es ist 13,70 m lang, keine 4 m breit und geht 2,28 m tief. 29 Tonnen werden von 90 qm Segelfläche bewegt. Segeln kann Tilman noch nicht. Aber das kann kein Hexenwerk sein, lässt sich wohl lernen. Er nutz die Überführung nach England für eine Art Crash- und Kompaktkurs im Hochsee-Segeln. Die wetterwendische, seglerisch anpruchsvolle Biskaya ist zwar nicht direkt ein Anfängerrevier. Doch ist Tilman dort ja bereits einige Tage unterwegs. Und mit Leinen kann der versierte Bergsteiger umgehen. Alles weitere bringt er sich unterwegs bei.

Wie bei der Querung Afrikas mit einem Fahrrad für 6 Pfund oder seinen Bergtouren löst er anstehende Aufgaben auf die direkte und schlankestmögliche Tour. Dabei kommt ihm der Bootstyp zugute. Ein Lotsenkutter lässt sich bei allen Bedingungen zu zweit segeln. „Jedes Vorhaben lässt sich auf der Rückseite eines Briefumschlags planen“ meint Tilman, der damals den gemeinsam mit Eric Shipton in den Bergen lange vor Reinhold Messner praktizierten schlanken Stil aufs Seesegeln überträgt. Die beiden haben gemeinsam Bergsteiger-Geschichte geschrieben.

Helfende Hände für seine Abenteur findet er mit einer Anzeige in der Times mit einem Satz, in dem Tilman alles kurz und ehrlich zusammenfasst: “Hands wanted for long voyage in small boat. No pay, no prospects, not much pleasure.” Lakonisch klar und geradeaus lesen sich auch die Schildungen seiner Törns. Navigation ist damals so fordernd und ungwiß wie die Ansteuerung ferner Gestade nach vielen Tagen ein Vabanquespiel: „Beyond the clouds, beyond the waves that roar, there may indeed, or may not be, a shore“ schreibt Tilman in „Mischief in Patagonia“.

Trotz des Bootsnamens „Mischief“ (Unglück) gelingt die Patagonienreise. In der Magellanstraße navigiert er nach Angaben, die noch aus Charles Darwins Zeiten mit der „Beagle“ stammen. Im Sommer der südlichen Hemisphäre, Mitte Dezember ‘55 bis Ende Januar geht Tilman in Begleitung von Charles Marriott und Jorge Quinteros einmal durch Patagonien und zurück.

Unterwegs zu den Crozetinseln 1959 im Süden des Indischen Ozeans
Unterwegs zu den Crozetinseln 1959 im Süden des Indischen Ozeans © Archiv HW Tilman

Beyond the clouds, beyond the waves that roar, there may indeed, or may not be, a shore

Bill Tilman

Bylot Insel im Nordosten Kanadas 1963
Bylot Insel im Nordosten Kanadas 1963 © Archiv HW Tilman

In Patagonien findet Tilman das Thema seines Alters: die Verbindung von Segeln und Bergsteigen. So segelt Tilman 113 Tausend Meilen mit „Mischief“, bis sie infolge eines Motorschadens vom Eis beschädigt wird und östlich von Jan Mayen sinkt. Sein nächstes Schiff namens „Sea Breeze“ ist ebenfalls ein gebrauchter Lotsenkutter. Er sinkt nach vierjährigem Einsatz im Sermilik Fjord an der Südostküste Grönlands. Mit seinem dritten Schiff namens „Baroque“ ist Tilman 1973 bis 76 vor Grönland und Spitzbergen unterwegs. Er bringt es schwimmend nach England zurück. Nun könnte der prototypische Pulloversegler und Freund der hohen Breitengrade sich aufs Landleben einlassen, sich von den Abenteuer zurück ziehen. Er geht jetzt auf die Achtzig zu.

1971 East Greenland
1971 East Greenland © Archiv HW Tilman

Aber Tilman hat 500 Meilen südlich von Kap Horn mit einem zwei Kilometer aus der kalten Flut ragenden Berg noch eine Rechnung offen. Zweimal hat er versucht, auf der von Eis und Brandung umlagerten Insel, namens Smith Island, zu landen. Vergeblich. Da muss da noch mal hin, wird jedoch nicht selbst auf den Mount Foster gehen. Aber er möchte zwei junge neuseeländische Bergsteiger auf den Falkland Inseln abholen und in den Sommermonaten des Südens nach Smith Island bringen. Die werden die Besteigung für ihn machen.

Smith Island, Antarktis
Smith Island, Antarktis © Public Domain

Leider ist „En Avant“ (dt. Vorwärts) kaum dafür geeignet. Mit diesem hastig von einem Weggefährten zum Gaffelkutter umgebauten 18 Meter Schlepper ließe sich passabel von Basel bis Weil am Rhein dieseln. Oder eine Kaffeefahrt von Southampton zum schönen Lymington im geschützten Solent machen. Der Kahn ist flachbordig und schwer. Das zerdellte Eisenross liegt tief wie eine Lokomotive im Wasser.

Doch ist eine Tilman-Tradtion, aus gebrauchter Hardware viel zu machen. Stets ging es gut für ihn, und er gelangte um die Erlebnisse eines kernigen Törns reicher, stets trockenen Fußes an Land. Immerhin gelangt der ehemalige holländische Schlepper von England über die Kanarischen Inseln bis Südamerika. Am 1. November 1977 verlässt der zähe Mann mit einigen jungen Männern an Bord Rio de Janeiro. Tilman ist taub, am Ende seiner Kräfte. Es ist klar, dass Tilman nach diesem Törn die Leinen nicht mehr los wirft.

Das Schiff und seine Besatzung werden nie mehr gesehen. Niemand weiß, warum und unter welchen Umständen das Schiff auf dem Weg zu den Falkland Inseln verschwand. Vermutlich beendet die eingeschränkte Seetüchtigkeit des ranken Gefährts mit wenig Ballast und geringem Freibord im gefährlichen, von Pampero-Stürmen heimgesuchten Südatlantik die Reise. Immerhin erfüllt sich Tilman mit diesem Törn seinen letzten Wunsch. Einfach so, wie normale Leute in einem warmen Bett wollte Tilman seine erlebnisreiches Leben nicht beschließen.

Heute erinnern das Velo seiner 3.000 Meilen Radtour durch Afrika im Museum von Coventry, ein Pfad durch die Dolomiten, sieben sehens- und lesenswerte Berg- und acht Segelbücher, das Three Peaks Race in England, Schottland wie Tasmanien an den großen Abenteurer.

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VG