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Du hast ein Boot ...
Ein ehrlicher Blick auf das amphibische Leben

Eine Einführung für unbebootete „Normalos“ in die spezielle Lebensform mit Schiff, seine Versuchungen und Härten. Warum ich es manchmal satthabe, im Grunde jedoch mag. Wie wenige Stunden auf dem Wasser den ganzen Aufriss für Pflege und Reparaturen vergessen lassen.
Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 13.09.2022, aktualisiert am 01.10.2024
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- eine Liebeserklärung an das Leben mit Boot
- warum ein Boot fordernd und beglückend ist
- warum beim betagten Boot die handwerkliche Seite dazu gehört
- warum der Bootsmensch erst mit einem schwimmenden Untersatz komplett ist
- eine Erklärungshilfe für Normalos ohne Boot
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Du hast ein Boot
... wenn Dein Tag an Bord in herrlich frischer Seeluft bei Möwengeschrei mit einem Blick aus der Koje durch das geöffnete Vorluk in einen verheißungsvoll blauen Himmel beginnt.
... wenn Du immer, beim Zubereiten des ersten Kaffees ganz sicher, die Projekt- von den Kaffeetassen unterscheidest.
... wenn Du ganzjährig Schachteln für Margarine oder Streichkäse und flache Trays sammelst, weil sich Epoxidspachtel in den flachen Schalen erfahrungsgemäß am besten anrühren lässt. Wenn Du Spritzen aus der Apotheke zum Füllen von Bohrungen an Deck mit dünnflüssiger Epoxyd-Mischung dabei hast und auch für die Holzlöffel aus der Eisdiele eine zweite Verwendung an Bord kennst. So was kommt bei Dir nur später nach der richtigen Verwendung in den Müll.
... wenn Dir Ergebnisse wie ein selbst verdübelter Holzausbau endlos Freude machen, weil Du den Pfropfen mit sanften Hammerschlägen in Maserrichtung vorsichtig reingeklopft und den Überstand liebevoll mit der Japansäge und Sandpapier wie ein Möbeltischler bündig bekommen hast, obwohl Du einer aus der Abteilung Ungeduldig und manchmal ein großer Murkser unter der Sonne bist. Außer Ablegen und Segeln gibt es keinen besseren Ausgleich zum Land- und Arbeitsleben. Bootswerkeln fährt Dich runter und erdet auf subtile Weise. Bei mir heißt dieses spezielle Menschwerdungsprogramm seit einigen Jahren «Muffen und Brettchen».
... weil es der perfekte Ausgleich zur Schreibtischarbeit ist
... wenn bei Dir ganzjährig Weihnachten ist, weil oft Päckchen mit schönen Sachen wie Nirobügel für die Badeleiter, einem aufgearbeiteten Relingsfuß oder einer neuen Ankerleinen-Rolle fürs Boot ankommen. Apropos Relingsfuß. Du liebst Dein Boot erst dann richtig, wenn Du früher in den Gelben Seiten nach einer Gießerei Deiner Heimatstadt geguckt hast, um die seit den Achtzigern nicht mehr erhältlichen Relingsfüße nachgießen zu lassen. Relingsfüße sind Verschleißteile.
Du brauchst nur ein gescheites Muster und jemanden, der Dir das noch bezahlbar macht. Auch ist es eine Frage von Geduld, Spucke und Deines aktuellen Dachschadens. «Muffen, Brettchen & Relingsfüße». Du weißt, dass Detailtreue an Bord keine Grenzen kennt. Andere haben dafür angeblich eine Modelleisenbahn im Keller. Aber steht die an der frischen Luft und kann man damit segeln?
... wenn Du herausgefunden hast, dass Siebzigerjahre-Scharniere nach einem Bad in Essiglösung mit einem Spritzer Zitrone bestens zum Aufpolieren präpariert sind. Danach etwas Messingpolitur, Geduld und Spucke. Es geht nichts über bewährte Hausmittel aus Omas Zeiten. Zu Hause würdest Du so einen Piffkram auf keinen Fall machen. An Bord ist das nicht spießig und völlig in Ordnung.
... wenn Dich schlimm spießige Pflegejobs beglücken
... wenn Du Deiner Liebsten in der bootsfrei kalten Jahreszeit öfter Blumen mitbringst, damit das Bootszubehör länger im Wohnzimmer geduldet wird. Die Endbeschläge Deines Großbaums müssen halt mal in Ruhe angeschaut und repariert werden. «Muffen, Brettchen, Relingsfüße, Lümmelbeschlag und Baumnock».
... wenn Du jeden Morgen unter Deinem Boot aufwachst, weil Du ein Halbmodell im Schlafzimmer hast. Bei diesem Anblick fängt fast jeder Tag gut an.
... wenn es eine blau ausgemalte Gravur in der Steuerradnabe gibt und das Spielzeug auch sonst von Saison zu Saison in vieler Hinsicht besser wird. Einen gescheiten Graveur gibts in jeder Stadt. Mit Glück hat er sogar das passende Blau fürs Logo. Die Gravur war in der ersten Version mal schwarz. So etwas kann nur richtig gemacht werden. Manche Finesse an Bord benötigt eben zwei Anläufe oder drei. Egal. Entscheidend sind das Resultat und Dein Zufriedensein.
... wenn Du mit üblichem Bootsbaumaterial und den Grundlagen heutiger Laminiertechnik vertraut bist und Dein anfängliches Interesse an Baumärkten und Bootsausrüstern zur Hassliebe wurde, weil Du oft da bist und Dich die Kollegen vom Infostand und der Kasse alle kennen.
... wenn der leere Schminktiegel der Liebsten mit kleinem Durchmesser für die flotte Mischung eines ambulanten Epoxyd-Jobs zwischendurch eine zweite Verwendung findet. Honig- oder Marmeladengläser sind unpraktisch, weil zu hoch und damit zu viel angerührt wird. Du möchtest doch lange von den Kanistern haben. Epoxidharz ist so teuer, dass es an Bord verarbeitet besser aufgehoben ist als im Müll. Man könnte das im schickdeutschen Neusprech „nachhaltig“ nennen. Doch wozu die Sache unnötig aufblasen, wenn es einfach nur praktisch ist?
... wenn Dir keine Drecksarbeit und auch kein Dullijob wie das Reinraspseln und -schleifen versenkter Borddurchführungen mit Gasmaske, Deltaschleifer, Geduld und Spucke zu doof ist und Du den Quatsch abends ringsum zufrieden anschaust.
... wenn Dir früher oder später die primitive Erstausstattung Deines Bordwerkzeugs mit üblich schlichten Maul- und Ringschlüsseln nicht mehr reicht. Solch primitive Tools sind Siebziger, als es noch keine Baumärkte gab. Das geht heute besser. Es schraubt sich am Motor oder in schlecht erreichbaren Winkeln unter der Pantry oder unter dem Waschtisch Deines Sanitärraums mit einer coolen Ratsche Welten besser. Je eher Du mit einem bestimmten Job fertig wirst, desto früher hast Du Zeit für den nächsten. Oder Du kannst ablegen, was auch denkbar wäre.
... wenn es Ostersonntag auf Deinem Kartentisch so aussieht.
... wenn Du zwar kein Elektriker bist, dennoch übliche Sachen wie der Ausbau des Batterieladegerätes im Herbst keine Hürde ist. Du fotografierst die vorhandene Verkabelung für den späteren Einbau des geprüften Geräts im Frühjahr und nimmst Dir das Handyfoto später wieder vor. Auch die Kollegen des örtlichen Elektro-Fachgeschäftes kennen Dich schon und freuen sich über etwas fachliche und fordernde Abwechslung.
... wenn Du Dir handwerkliche Grundlagen für Holz, Kunststoff, Motor, Elektrik in Kürze aneignest, also weißt, wo das braune, blaue und gelbgrüne Kabel des 220 Volt Landanschlusses drankommt. Mit Aderendhülsen und gescheitem Werkzeug beispielsweise streckst Du die Intervalle für nervig wiederkehrende Jobs an der Bordelektrik von 3 Jahren um Faktor 4. Du weißt natürlich, was Du mit der „gewonnenen“ Zeit machst: Ablegen, segeln oder weiterbasteln.
... wenn Du jeden Sommer das wunderbare Privileg genießt, irgendwo zu ankern, zu baden, den ganzen Tag an Bord herumzulungern, wenn Du vielleicht noch eine Nacht am Ankerplatz dranhängst. Ganz einfach, weil Du an Bord tun oder lassen kannst, was Du willst. Abstand vom Landleben und regelmäßige Offline-Zeiten sind für Deine mentale Gesundheit wichtig.
... weil es die perfekte Auszeitmaschine ist
... ... wenn Du alljährlich im Früh- oder Spätjahr – je nachdem, wenn Du mit Deinen ganzen Projekten (vorerst) fertig bist - beim ersten Schlag bereits nach drei Stunden auf dem Wasser den ganzen Aufriss an Arbeit, Geld und Zeit vergisst und die Saison mit Deiner Auszeitmaschine in vollen Zügen genießt.
… wenn Du Deiner Maschine nach jedem Start Zeit lässt und ihn rücksichtsvoll, mit Verstand warm fährst, weil das kalte Innenleben und Motoröl angehobene Drehzahlen erst nach einer Weile mit entsprechender Betriebstemperatur vertragen. Das hast Du vom sehenswerten YouTube-Kanal Tyrrells Classics Cars gelernt, wo der liebenswürdige Ian Tyrrell die alten Jaguars, Bentleys und ähnliche Exoten gut behandelt.
… wenn Du eine symbiotische Beziehung zu Deinem tannengrünen Kumpel, dem Vintage Volvo Penta MD17C von anno 1979 pflegst, ihm über selbstverständliche Wartungseinheiten wie Öl- und Filterwechsel hinaus die nötige Aufmerksamkeit zukommen lässt. Wenn Du gelegentlich mal den Deckel öffnest und unten nach dem Rechten schaust, den Keilriemen und die ganzen Strecker, die abfallen können und das leider auch ab und zu mal tun, bei der Gelegenheit anschaust und auch die Kabel abfingerst.
... wenn Du zum Motorschrauber wirst, obwohl Du allenfalls etwas Ahnung hast
… wenn Du es gewissermaßen im Urin hast, dass es ihm nicht gut gehen könnte und ahnst, dass etwas mit ihm nicht stimmt, obwohl Du eigentlich keine Ahnung hast, weil Du Schreibtischtäter, ansonsten Segler und definitiv kein Mechaniker bist. Wenn Du tief Luft holst und Dich nur einen halben Tag aufregst, wenn gute vier Jahrzehnte seit Inbetriebnahme eine stinkende Öllache in der Motorbilge schwimmt und Du Dir beim Aufwischen sagst, okay, ich habe (siehe oben) geahnt, dass etwas nicht stimmt.
Wenn Du also beim Einwintern des Bootes die Bowdenzüge, Schläuche und Kabel fotografierst und abbaust, die Schrauben zum Motorfundament und zur Saildrive-Dichtmanschette löst und den ganzen Spaß mit einem Kran aus dem Boot hebst, obwohl das alles nicht geplant war. Weil Du eigentlich keine Zeit und wenig Lust für solche Extrawürste hast. Doch weil es Verdammt nochmal dazu, der ganze Aufriss zum Boot gehört.
... weil Dir Dein Boot zentrale Lektionen auch fürs sonstige Landleben erteilt
… wenn Du dem Motorenmann Deines neu gewonnenen Vertrauens in seiner Werkstatt erklärst, dass die Maschine noch nie so weit und lange vom Boot entfernt war. Und er Dich anschaut, als hättest Du ein paar Schrauben locker.
… wenn Du Dich mitten im Winter wie ein Kind über ein Foto des Motor Schraubers Deines neu gewonnenen Vertrauens freust, der den tannengrünen Volvo nach Beheben des Kurbelwellenschadens mit Einbau neuer Simmerringe zeigt, nachdem er ihm wieder dieses spezielle Göteborger Volvo Penta Grün verpasst hat. Er weiß, dass Du dieses Fotos jedem Deiner Freunde, mit und ohne maritimen Dachschaden, also auch Landratten und Normalos zeigst und ungefragt zuschickst.
... wenn zwischen April und September nur im Härtefall mit Dir zu Normalo- & Landrattenevents zu rechnen ist
... wenn Du bis September bei normal langweiligen Landrattenevents wie Stehempfängen beim Nachbarn, Geburtstagsfeiern von Nichtseglern, Grillfesten, Hauseinweihungen, Hochzeiten oder Konfirmationen nur zu den wirklichen, den absolut unvermeidbaren Terminen nach langen, harten Verhandlungen mitkommst und hoffst, dass sich dabei wenigstens das eine oder andere Gespräch über Deine Passion ergibt.
... weil es Dir gnadenlos zeigt, dass Pfusch und Eigenmurks die schlechteste aller Lösungen ist und Du also an Bord auch fürs sonstige Leben lernst.
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