Seemannschaft8 min Lesezeit
MOB – Mensch über Bord! Und nun?
Ein falscher Schritt, ein Griff ins Leere und schon geht es um Leben oder Tod.
Es ist der Super-GAU aller Skipper und ihrer Crews: MOB – man over board, Mensch über Bord. Auch wenn Sie zu den neunzig Prozent aller Wassersportler zählen, die felsenfest der Meinung sind, sowas passiere sowieso nur den anderen – Sie irren!
veröffentlicht am 27.10.2023
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- Mensch über Bord – passiert das wirklich nur den anderen?
- Übung macht den Meister – auch beim Leben retten.
- Es ist schnell passiert – doch was dann?
- Niemals aus den Augen verlieren!
- Die Berge- oder Bergungsschlaufe rettet Leben.
- Welche Manöver bei welchem Windeinfallswinkel?
- Catch & Lift ideal für Zwei-Personen-Crews.
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Es kann jeden und jede treffen. Vom Vollblut-Profi über den immer standhaften Vorschiffsmann bis zur Gelegenheits-Schönwetter-Skipperin ist niemand davor gefeit, über Bord zu fallen. NIEMAND!
Selbstverständlich kann einen die MOB-Situation im wohligen Sonnenschein bei 2-3 Beaufort Windstärke und 12 cm Welle auf dem Binnensee oder in einer lauschigen Bucht im Mittelmeer ereilen. Ein falscher Tritt und platsch, planscht die Person im Wasser. Alle lachen, das Boot wird in den Wind gestellt, der Motor gestartet und man tuckert mal eben schnell zum Unglücksraben zurück. Die Bade- oder Strickleiter herunter geklappt/gelassen und in nullkommanix ist die Crew wieder vollzählig an Bord. Man klopft sich auf die Schulter, reicht ein Handtuch und zehn Minuten später ist der nasse Spaß schon wieder vergessen.
Welle, Wind, Wasser
Doch auch wenn interessanterweise die meisten Lernvideos zu MOB-Manövern oder für den Einsatz spezieller MOB-Ausrüstung bei genau diesen Wetterverhältnissen gedreht wurden – über diesen MOB-Fall soll es in den folgenden Zeilen NICHT gehen.
Stellen Sie sich vielmehr folgendes Szenario vor: Sie segeln mit einer vierköpfigen Crew auf einer 13-Meter-Segelyacht moderner Bauart in einem Tief, das sich buchstäblich gewaschen hat. Es regnet, der Wind pustet mit sieben Beaufort, das Boot krängt, der Windeinfallswinkel beträgt 50 Grad, sie brettern also am Wind und schräg gegen zwei bis drei Meter hohe Wellen bei einer Geschwindigkeit von ca 5-6 kn. Zwei Reff im Großsegel, Sturmfock.
Es kracht und scheppert in jeder Welle, die gesamte Mannschaft ist in schweres „Ölzeug“ gepackt, alle tragen vorschriftsmäßig eine Schwimmweste und sitzen angeleint im Cockpit. Plötzlich gibt es irgendein Problem auf dem Vordeck.
Ein falscher Tritt…
Ein kräftiger, engagierter, sich für das Vorschiff zuständig fühlender Mitsegler ruft in Richtung Skipper (und Steuermann), dass er sich „drum kümmern“ werde. Hakt sich aus, aber nicht wieder in eine für Schwerwetter verlegte Streckleine ein, tippelt gebückt Richtung Bug, will sich fürs nächste Wellental festhalten und… greift ins Leere. Noch ein Aufbäumen des Bootes, der Mann verliert nun endgültig das Gleichgewicht und fällt nach Lee. Erst gegen die Fock, dann versucht er sich noch an der Reling festzuhalten. Doch schon 2 Sekunden später verschwindet er über Bord. Unser Mann – nennen wir ihn fortan Hans – hat sich offensichtlich nicht verletzt, die Schwimmweste ploppt sofort auf und er ruft noch „Hey, halt“ und „Hilfe“, doch ist er schon nach 10 Sekunden weit hinter dem Boot.
Ein klassischer Fall von MOB.
Und jetzt?
In den folgenden Zeilen möchten wir Möglichkeiten aufzeigen, die zur Rettung von Hans führen könnten. Wohlgemerkt „könnten“ – denn es gibt trotz tausender Jahre Seefahrtsgeschichte und moderner Forschungsmethoden noch immer kein Patentrezept, wie man mit einer MOB-Situation umgehen sollte. Weil immer etwas schiefgehen kann, mit dem man nun überhaupt nicht gerechnet hat.
Deutlich höhere Chancen auf Rettung
Wir können aber mit bestimmten Verhaltensregeln und Erfahrungswerten die Chancen deutlich vergrößern, Hans relativ schnell und unversehrt wieder aus dem Wasser an Bord zu holen. Für die folgenden Verhaltensmöglichkeiten sind wir übrigens von einem optimal mit Sicherheitsausrüstung ausgestatteten Boot ausgegangen. Und einer Crew, die diesen Notfall bereits mehrfach geprobt hat, das Verhalten ihres Bootes kennen und nicht panisch reagieren. Übrigens, das oben beschriebene Szenario kann sich noch unglücklicher gestalten, wenn wir uns vorstellen, dass Hans verletzt und ohnmächtig ins Wasser fällt – etwa nach einem Unfall mit dem Spibaum. Hierzu wird in den relevanten der nachfolgenden Schritte jeweils ebenfalls Stellung genommen.
- 1. Ruhe bewahren, aber schnell handeln! Wer den Sturz oder Fall bemerkt hat, ruft, besser: schreit MOB, damit jeder Mitsegler sofort weiß, "was Sache" ist. Alle sofort an Deck!
- 2. Ein Crewmitglied drückt den MOB-Knopf, um die Unglücksstelle per GPS-Koordinaten festzuhalten. Ein anderes wirft die am Heck befindliche Sicherheitsboje mit Blitzlicht und die Hufeisen-Boje, die sich der Verunglückte überziehen kann, in Richtung Hans.
- 3. Eine Person wird ab jetzt den Verunglückten im Auge behalten und NICHTS ANDERES machen, als mit ausgestrecktem Arm auf den im Wasser treibenden Hans zeigen. So weiß der Skipper respektive Steuermann auch nach manchmal etwas desorientierenden Manövern sofort, wo sich Hans befindet.
- 4. Das „Hamburger Manöver“ wird SOFORT eingeleitet: Vorschoter fiert das Vorsegel, Steuermann fällt ab, das Boot nimmt mehr Fahrt auf und SOFORT wird gewendet. Die Fock bleibt back stehen, das Großsegel etwas gefiert oder dichtgeholt (muss vorher getestet werden, je nach Bootstyp). Im Idealfall treibt das Boot jetzt zurück Richtung Hans, ist aber noch eingeschränkt manövrierfähig. Steuermann visiert den MOB ungefähr zwischen Vorstag und Wanten in Lee an. Kurz vor Erreichen hart anluven und Hans in Lee positionieren. In jedem Fall für etwaige Richtungskorrekturen Motor zünden und zunächst Gang raus. Exkurs: Es gibt mehrere Möglichkeiten, unter Segeln zum Verunglückten zu gelangen, wie die Q-Wende. Andere schwören auf ihren starken Motor, bergen sofort die Fock, lassen das Großsegel in die Lazy Jacks fallen und fahren unter Maschine. Doch hierfür muss man sich zu 150 Prozent auf den Motor auch bei diesem Seegang verlassen können! Passiert das MOB übrigens vor dem Wind, ist (je nach Bootstyp) sofortiges Halsen angesagt. Oder es wird angeluvt, mit Fahrt eine Wende gefahren. Danach kreuzen Richtung Hans. Keine „langen Schläge“, lieber öfter wenden. Priorität: den im Wasser Treibenden IMMER in Sichtweite behalten. Sollte Sichtkontakt unterbrochen sein, zunächst auf GPS-Koordinaten zufahren, die mit dem MOB-Signalknopf im System gespeichert wurden.
- 5. In der Nähe von Hans angekommen: Eine Rettungsleine wird ausgeworfen (von Luv nach Lee), an der er sich festhalten und festlaschen kann und somit ein Kontakt zum Boot hergestellt wird. Exkurs: Früher schwor man auf schwimmfähige Rettungsleinen. Diese sind im Prinzip auch empfehlenswert, haben aber der Nachteil, dass sie schwer zu fassen/greifen sind und leicht aus der Hand rutschen. Deshalb sei bereits an dieser Stelle ein Bergungssystem mit Bergeschlaufe empfohlen. Die Schlaufe ist besser zu greifen und kann relativ rasch übergezogen werden.
- 6. Ein bis zwei Mitsegler beginnen, Hans an der Leine langsam Richtung Boot zu ziehen. Darauf achten, dass Hans’ Kopf immer über Wasser bleibt. Also nicht zu schnell ziehen.
- 7. Vor allem bei starkem Seegang und Wind sollte das Boot in Luv des Verunglückten aufschießen. Für Hans ist es in Lee des Bootes günstiger, weil dort die See etwas ruhiger ist und durch die Krängung des Rumpfes das Süllbord tiefer sinkt.
- 8. Was bis zur Bergung sonst noch alles passieren kann: A. MOB ging verletzt über Bord, ist ohne Bewusstsein, die Schwimmweste öffnet sich ordnungsgemäß. In diesem Fall wie oben handeln, sobald in der Nähe des Verunglückten, muss eine Person an einer langen Sicherungsleine zum Verunglückten ins Wasser. B. Sichtkontakt ging verloren, der im Wasser Treibende kann (zunächst) nicht wiedergefunden werden. Spätestens jetzt Notruf absetzen (Funk, Epirb, Sat). Exkurs: Es gibt kaum noch Crews, die auf hoher See ohne PLB „am Mann, an der Frau“ unterwegs sind. Diese kleinen Notrufsender werden entweder an der Schwimmweste oder in einer Außentasche der Jacke/Hose getragen. Sie müssen in den meisten Fällen manuell ausgelöst werden und senden Notrufe an die einschlägigen und für das jeweilige Seegebiet zuständigen Rettungsdienste inkl. GPS-Koordinaten des Verunglückten. Neuere Modelle senden ebenso AIS-Daten – so können MOB vom suchenden Boot über dessen AIS-System auch ohne Sichtkontakt geortet werden. Für See-Törns werden PLBs DRINGEND EMPFOHLEN.
- 9. Auch wenn die meisten Übungen oder Prüfungen für Hochseescheine häufig hier enden – mit dem „an-Bord-hieven“ des nun neben dem Boot schwimmenden Hans, beginnt die ein weiterer lebenswichtiger Schritt bei der Rettung einer über Bord gefallenen Person.
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- 10. Es gibt Dutzende Erlebnisberichte vorwiegend von Doublehanded-Seglern, bei denen der MOB zwar neben das Boot gezogen, aber eben nicht an Bord gehievt werden konnte. Die Folgen sind auf Hoher See tödlich. Doch die maritime Sicherheitstechnik hat in den vergangenen Jahrzehnten zu diesem Themenbereich gewaltige Fortschritte gemacht. Mittlerweile existieren diverse Systeme, die von sich behaupten, den MOB sicher an Deck zu bringen. In zahlreichen Tests von Fachmagazinen wurden diese Systeme überprüft und in den meisten Fällen für einsetzbar befunden. Dabei haben sich Systeme mit Bergeschlaufe und Bergenetzen bewährt.
- 11. Sobald Hans neben dem Boot in Lee treibt, sollte er mit einem gewöhnlich Bootshaken neben dem Boot gehalten werden. Zuvor muss das Spifall einsatzbereit gemacht werden (nur unter Motor am besten das Großfall). Dieses muss in den dafür vorgesehenen Ring oder (zur Vereinfachung) an einer präventiv angebrachten Schlaufe aus Dyneema an der vorderen Seite der Bergeschlaufe angeschlagen werden. Entweder von Hans selbst oder – im Verletzungsfall – vom Crewmitglied im Wasser. Danach wird der MOB über Winch und Spifall an Bord gehievt. Ein für diesen Fall bereit gestellter 8-12fach-Flaschenzug kann hilfreich sein.
- 12. Im eben beschriebenen Fall der Rettung mittels Bergeschlaufe kann es zu lebensgefährlichen Situationen kommen, wenn der MOB zu lange in kaltem Wasser trieb. Die meiste Zeit verbringen MOB mit Schwimmweste nahezu waagerecht in den Fluten. Werden sie nun vertikal aus dem Wasser gezogen, fließt Blut zu schnell in die Extremitäten. Das kann zu Herzkammerflimmern und sogar Herzstillstand führen. In nördlicheren Segelrevieren auf Hoher See wäre also die Bergung mit einem Netz-System oder mit dem ins Wasser gelassenen Vorsegel (Training!) vorzuziehen.
Stellvertretend für innovative Bergungssysteme soll an dieser Stelle das Catch & Lift-System vorgeschlagen werden, das in den vergangenen Jahren in der Hochseeszene immer mehr Fans gefunden hat.
Geht das auch automatisch?
Catch & Lift ist ein Bergesystem mit Bergeschlaufe, das mittels eines Treibankers/Netzankers und Bootsgeschwindigkeit den MOB über eine Umlenkrolle automatisch an Bord zieht (siehe Video). Ein System, das vorrangig für Doublehanded-Crews zu empfehlen ist. Erst recht, wenn ein Crewmitglied deutlich schwächer ist als das andere. Allerdings ist im Video zu beachten, dass sich das dargestellte Rettungsmanöver bei relativ ruhiger See und niedrigem Wellengang abspielt. Doch selbst unter diesen leichten Bedingungen wird deutlich, dass der Kopf des MOB bei nur wenig erhöhter Fahrtgeschwindigkeit leicht unter Wasser geraten kann. Wenn das System auch bei starkem Wind und meterhohen Wellen eingesetzt wird, muss der Steuermann jedenfalls die Geschwindigkeit des Bootes in jedem Windeinfallswinkel und auf jeder Welle feinfühlig im Griff haben.
Vorschläge – keine Garantien.
Epilog. Die oben genannten Maßnahmen sind Vorschläge und können nicht zwingend – wie beschrieben – auf alle MOB-Situationen angewendet. Entsprechend kann keine Haftung übernommen werden. Sie sollen in erster Linie dazu anregen, sich intensiv mit der Problematik MOB zu beschäftigen. Und vor allem zu dem einen animieren: Probe und Training für die Rettung von „Menschen, die über Bord gegangen sind“ bleiben unabdingbar.