Motoren und Technik5 min Lesezeit

Vom Telefon zum Hydroplane

Von Bell kam das Telefon. Und die Tragflächen an den Booten. Oder war er nur der bessere Vermarkter?

Vom Telefon zum Hydroplane
Die Zigarre HD IV auf Rekordfahrt © canada–public domain–before 1949

Warum Graham Bell nicht nur die Kommunikationsmöglichkeiten der Menschheit für immer veränderte. Und was das mit dem Foilen auf unseren modernen Booten zu tun haben könnte.

Von Michael Kunst, veröffentlicht am 18.07.2022

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • Kurzer Exkurs zum Thema "Erfindung und Wertschöpfung"
  • Was Telefonieren mit Foilen zu tun hat
  • Warum ausgerechnet der große Erfinder und Geschäftsmann Graham Bell sich mit Tragflügeln beschäftigte

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Das mit dem Erfinden, den darauf folgenden kommerziellen Erfolgen und den gesellschaftlichen Anerkennungen war und ist ja immer schon eine heikle Angelegenheit gewesen. Da gab und gibt es helle Köpfe mit zündenden Ideen, die vielleicht sogar Dinge erfinden, die ganze Zivilisationen beeinflussen könnten, jedoch kein Gespür fürs Geschäftliche haben und mit ihren schöpferischen Einfällen mehr oder weniger rasch wieder in Vergessenheit geraten. Und es gibt solche, die clever die nicht ganz ausgegorenen Ideen anderer übernehmen, dieselben ausbauen, verbessern, entscheidende Elemente hinzufügen und damit enorme kommerzielle und gesellschaftliche Erfolge feiern.

Wer hat’s erfunden?

Zumindest war dies so, bevor im 19. Jahrhundert das Patentrecht zum Tragen kam. Wie etwa bei der Erfindung des Telefons: Nach neuesten Erkenntnissen war es der deutsche Lehrer Philipp Reis aus Hessen, der das Fernsprechgerät tatsächlich erfunden hat - und das Wort „Telefon“ gleich dazu. Aus einer Stricknadel, einer Hasen-Blase und einer Geige bastelte der Tüftler tatsächlich das erste Telefongerät. Doch nach dem (frühen) Tod des Dorflehrers Reis vergaß man das Ganze schnell wieder – was sollte man mit solchen Spinnereien schon anfangen?
Nur ein gewisser Graham Bell fand die Idee ausbauwürdig. Im Gegensatz zu dem deutschen Erfinder hatte der Geschäftsmann mit dem amerikanisch-britischen Doppelpass die Möglichkeit, Patenrechte anzumelden (die es in Deutschland zu Lebzeiten von Reis noch nicht gab). Bell übernahm die Idee des Deutschen und meldete sie zum Patent an, verwies aber ausdrücklich darauf, dass es sich um die „Verbesserung in der elektrischen Telefonie“ handle. Dass danach vor allem die amerikanischen Medien und später die US-amerikanische Gesellschaft als „Erfinder des Telefons“ einen Nationalhelden aus ihm machte, steht auf einem anderen Blatt.

War es Bell oder nicht?

Auch bei einer weiteren Erfindung, die letztendlich nichts anderes als die Weiterentwicklung einer längst erprobten Idee war, stilisierten amerikanische Medien den mittlerweile betagten Bell zum tüftelnden Genie: die vermeintliche Erfindung des Hydrofoils, respektive des Tragflügelbootes. Obwohl Bell immer wieder betonte, dass bereits der Italiener Forlanini 1906 das Prinzip der Tragflügel auf dem Lago Maggiore vorführte, beharrten die Medien in den USA stur darauf, dass „ihr“ Graham Bell auch bei dieser Erfindung der Ideengeber war.
Doch schön der Reihe nach.

© canada, public domain
© canada, public domain

Es war wohl ein Wassersport-begeisterter Geschäftspartner, der den bereits weltberühmten Erfinder und äußerst erfolgreichen Geschäftsmann Graham Bell dazu bewegte, sich neben der Elektrotechnik und Telefonie auch mit der Aero- und Hydrodynamik zu beschäftigen. Da die Patentrechte von Tragflügel-Booten bereits an den Italiener vergeben waren, wollten Bell und seine Geschäftspartner mittels Geschwindigkeitsrekorden zu Wasser Aufmerksamkeit für das vielversprechende Projekt erregen. Die Idee, nicht durch statischen Auftrieb auf der Wasseroberfläche getragen zu werden, sondern durch den dynamischen Auftrieb von Tragflügelplatten oder Schaufeln, die so wie Flugzeugflügel in der Luft nun im Wasser wirken, begeisterte Bell übrigens bis ans Ende seiner Tage. Motto: „Wer über den Wassern schwebt und mit seinen „Flügeln“ nur geringen Kontakt zur bremsenden Wasseroberfläche hält, muss weniger Widerstand überwinden und kann mehr von der Leistungskraft seines Antriebs profitieren.“ Bis heute ist dies auch das Prinzip der Foils, die moderne Segelboote aller Größen (von der Moth bis zum Ultim-Trimaran) über die Wasseroberfläche heben.

Abheben und „fliegen“

Graham Bell begann in kleinen Schritten. Das Tragflügel-Prinzip war ihm von Forlaninis Konstruktionszeichnungen bekannt. Der amerikanische Erfinder wollte zunächst – mit Blick auf das Militär als möglichen Interessenten – das Tragflügel-Prinzip zum Abheben von Wasserflugzeugen verwenden. Nachdem Bell jedoch gemeinsam mit Forlanini über den norditalienischen Lago Maggiore „flog“ und er dieses Erlebnis mit dem echten Fliegen verglich, konzentrierte er sich fortan auf das Tragflügel-Prinzip für Boote. Zunächst konstruierte Bell die (kleineren) Prototypen Hydrodrome HD 1 bis 3, aus deren konstruktionsbedingten Fehlern und fahr-spezifischen Problemen Bell und sein Team konsequent lernten. Mit der HD-4, für die er die Unterstützung des damals in der Segel-Regattaszene sehr erfolgreichen australischen Yachtkonstrukteurs Walter Pinaud aus Sydney erhielt, gelang den Hydrofoil-Pionieren ein technisch genialer „Wurf“.
Bell setzte zunächst auf schiere Antriebskraft: Im Gegensatz zu Forlanini, der lediglich einen 60 PS starken Motor mit gegenläufig drehenden Luftpropellern auf seinem Tragflügelboot einsetzte, ließ Bell zwei 250 PS starke Renault-Motoren (ebenfalls mit Luftpropellern) verbauen.

© Bell Foundation
© Bell Foundation

Ein Rekord muss her

Mittlerweile war das Projekt in der amerikanischen und britischen Presse bekannt geworden. Entsprechend oft war die Rede von Geschwindigkeits-Weltrekorden auf dem Wasser. Mit den beiden Renault-Motoren erreichten Bell und sein Team jedoch nur 86,9 km/h Spitzengeschwindigkeit. Was zunächst nicht störte – dem Team waren Fahreigenschaften im „Flugmodus“ und in der Welle wichtiger. Hoffte man doch, dass sich die amerikanische Marine endlich dazu herablassen würde, den Bootsbauern stärkere Motoren zu überlassen
Doch dort ließ man sich Zeit. Erst nach Ende des 1. Weltkriegs überließ man Bell zwei Liberty V12-Triebwerke, die es immerhin auf je 350 PS brachten.

Damit stellte Bells Geschäftspartner und Freund Frederick Walker Baldwin (Kanada) mit der HD-4 auf dem Bras d’Or Lake Baddeck in Nova Scotia am 9.9.1919 einen Geschwindigkeitsweltrekord von 114, 04 km/h auf (70, 86 m/ph). Der wurde zwar schon ein Jahr später von der brachialen „Miss America“ geknackt. Doch für die Kategorie Tragflügelboote – die trotz eines anhaltend großen Interesses in der Öffentlichkeit nur schwach mit weiteren Rekord-Anwärtern besetzt war – blieb der Bell’sche Rekord 10 weitere Jahre bestehen.

Gut fürs Image

Letztendlich blieb der erhoffte geschäftliche Erfolg mit den Tragflügel-Booten aus dem Hause Bell aus. Vor allem die amerikanische Marine konzentrierte sich auf eigene Entwicklungen, und in der Handelsmarine sowie bei Fährbetrieben sah man (noch) keinen Bedarf. Für Graham Bell war die HD-4 jedoch eine Erfindung, der er persönlich einen ähnlich hohen Stellenwert einräumte wie „seinem“ Telefonapparat. Und obwohl die internationale Presse auch im Zusammenhang mit dem Tragflächenboot behauptete, Bell sei der Erfinder des Prinzips, blieb sich Bell immer treu und machte deutlich, dass Forlanini der Ruhm für die Erfindung des ersten Tragflügelbootes gebührt.

Das Rekordboot – die Hydrodrome IV

Länge: 18 m

Form: Zigarre
Tragflügel: am Bug und Heck
auf jeder Seite ein stromlinienförmiger Ausleger zur Stabilisierung
Je ein Propeller auf dem Ausleger
Vom Bug bis zur Mitte des Bootes wurde eine Art Gischt-Fänger angebracht, der zusätzlichen Auftrieb verursachte.
Motoren: 2 x Liberty V12, je 350 PS