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Rekorde6 min Lesezeit

Wie in einer Raumkapsel

Reid Stowe bewies von 2007 bis 2010, dass Einsamkeit relativ ist. Über einen Segler, der durchhielt

Wie in einer Raumkapsel
1.152 Tage auf See? Kann man das unbeschadet überstehen? © reid stowe/facebook

Kann man das aushalten? Mehr als 1.000 Tage auf See, ohne jemals den Fuß an Land zu setzen? Und den größten Teil dieser Zeit auch noch alleine? Der Amerikaner Reid Stowe trat von 2007 bis 2011 auf seinem Gaffelschoner den Beweis an, dass Flüge zum Mars möglich sind. Vorausgesetzt, man hat seinen eigenen Garten an Bord.

Von Michael Kunst, veröffentlicht am 07.06.2021

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • Wie aus einer Zweisam- eine Einsamkeit wurde
  • Warum Reid Stowe ein eher ambivalentes Verhältnis zum Internet hat
  • Kann eine Reise zum Mars gutgehen?
  • 1.152 Tage auf See – 1.152 Tage Kampf gegen die Verrücktheit

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Auch Segler sind bekanntlich nicht vor Rekorden gefeit oder – je nach Lebensanschauung –„scharf“ auf Rekorde. Das haben wir bei Boot24 bereits mehrfach dokumentiert (Link b24Mag_Rekorde). Zuletzt erstaunte uns Jon Sanders – mit 81 Jahren ein buchstäblich alter Mann auf dem Meer und Rekordsegler par excellence.
Selbstverständlich muss so einer auch im Guiness Book of World Records auftauchen: Dort wurde er 1988 als erster Einhandsegler eingetragen, der die Welt zweimal nonstop umrundete und dabei mal eben schnell den Rekord für die längste nonstop und einhand gesegelte Distanz auf die Logge brachte: 48.510 Seemeilen. Was damals auch gleich noch den Rekord für die längste, ununterbrochen auf See verbracht Zeit mit sich brachte: 419 Tage, 22 Stunden und 10 Minuten. Zwei Jahre später setzte Sanders diesen Rekord auf 657 Tage alleine und ohne Landfall hoch.

©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook
©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook

Damals! Denn mehr als zwei Jahrzehnte später machte sich ein anderer Segler daran, genau diesen Rekord zu brechen: Der Amerikaner Reid Stowe segelte und trieb sagenhafte 1.152 Tage ununterbrochen auf See, schaffte dabei eine Weltumseglung, zeugte ein Kind (das er erst im Alter von zwei Jahren sehen sollte), setzte mehrere Akzente auf seinem Routing-Tracker (wie z.B. ein Herz im Atlantik) und schaffte es, physisch und psychisch (einigermaßen) unbeschadet aus diesem einsamen Abenteuer wieder herauszukommen.

Von der einsamen Zweisamkeit in die lange Einsamkeit

Moment mal, er zeugte ein Kind? Also doch Landfall zwischendurch? Nein, Stowes Geschichte vom wahrhaft epischsten Nonstop-Törn aller Zeiten begann mit seiner damaligen Freundin Soanya Ahmad, die sich – völlig See-unerfahren – spontan entschlossen hatte, „ihren“ Reid auf seiner angepeilten „Mars Ocean Odyssey“ zu begleiten. Stowe wollte mit dem Törn beweisen, dass die für eine Reise zum Mars angepeilten 1.000 Tage Zeit in einer engen Raumkapsel für eine kleine Crew durchaus möglich seien. Oder anders formuliert: Die menschliche Ausdauer der „einsamen Zweisamkeit“ wurde auf den ultimativen Prüfstand gestellt.

Doch nach 306 Tagen musste die mittlerweile traute Einsamkeit aufgegeben werden: Ahmad wurde wegen "chronischer Seekrankheit" auf ein Rettungsboot vor Rottnest Island in der Nähe von Perth in Westaustralien evakuiert. Auch andere Langfahrt-Skipper segelten für die Übernahme der Kranken hinaus auf See – darunter Jon Sanders. Der ahnte, nachdem er ein paar Worte mit Reid ausgetauscht und ihn auf seinem Gaffelschoner „Anne“ gesehen hatte, dass sein eigener Rekord bald schon Geschichte sein könnte. „Zumindest das Boot hat das Potential!“, brummte Sanders damals.
Kaum an Land, stellte ´sich heraus, dass Soanya keineswegs unter Seekrankheit litt, sondern ihre andauernde Übelkeit einen anderen, sehr erfreulichen Grund hatte: Sie war schwanger!

Behäbig, aber robust

Die „Mars-Reise“ zu zweit und später alleine fand auf dem von Stowe ein gutes Jahrzehnt zuvor mit Hilfe seiner Geschwister gebauten Gaffelschoner „Anne“ statt. 21,3 m war das Schiff lang, ein relativ exakter Nachbau eines typischen US-Ostküsten-Frachtseglers aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts. Ein behäbiges, aber außerordentlich seegängiges Schiff, das vor dem Marathon-Törn bereits seine Zuverlässigkeit bei zwei Antarktis-Reisen und einem Karibik-Törn unter Beweis gestellt hatte. In der Nähe des Kap Hoorn überlebte die „Anne“ (vormals „Tantra Schooner“, wurde aber zu Ehren von Stowes Mutter umgetauft) sogar einen Sturm mit 180 km/h-Böen.

©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook
©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook

Reid Stowe nahm auf seine Langfahrt sechs Tonnen haltbare Lebensmittel (von Nüssen bis Konserven) mit, baute aber auch in Töpfen frisches Gemüse und Kräuter auf Deck an. Die „Anne“ war mit Sonnenkollektoren und einer Windenergie-Anlage für autonome Energieversorgung ausgestattet und Skipper Reid konnte via Satellit tägliche Nachrichten für seine Familie, Freunde und Fans (auf der Website) absetzen.

Langeweile? Ein Fremdwort auf See!

Nach seiner Reise wurde Stowe oft gefragt, ob so ein langer Törn nicht irgendwann langweilig werde. Und jedes Mal antwortete der Amerikaner im Brustton der Überzeugung. „Ganz und gar nicht! Langeweile ist ein Fremdwort auf See. Es gibt immer etwas zu tun, zu basteln, zu erneuern, zu verbessern. Und außerdem steht jeder Sonnenuntergang im Wettstreit mit dem vorangegangenen – für Künstler wie mich der ideale Moment zum Nachdenken.“ Doch neben Reparaturen, Sonnenuntergangskontemplation, Gemälde-Malerei und „Kleinigkeiten“ wie Segeltrimm, Manöver und lange Rudergänge hatte Reid Stowe auf seiner „Anne“ auch einige haarsträubende Abenteuer zu überstehen.

©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook
©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook

Gleich zu Beginn, am 25. April 2007, nach vier Tagen auf See, segelte der Schoner zu nahe an ein Raketentestgelände der US-Marine. Tatsächlich wurden in den Stunden, als die „Anne“ ungewollt in den Testbereich hinein fuhr, Raketen abgeschossen. Die US-Küstenwache alarmierte schließlich Reid und Soanya, die sofort ihren Kurs änderten.
Deutlich Folgenreicheres ereignete sich am 6. Mai 2007, als der Schoner mit einem Containerschiff kollidierte, das den Bugspriet der "Anne" schwer beschädigte, Rumpf und der Rest des Bootes blieben jedoch unversehrt. Stowe konnte einen, wenn auch verkürzten Ersatz-Bugspriet aus weniger beschädigten Teilen anfertigen. Nach diesen Vorfällen verbrachte die „Anne“ einen Großteil der zweiten Jahreshälfte 2007 im südlichen Atlantik und passierte Mitte Dezember 2007 die Spitze Afrikas.

Alltäglich – über 1000 Tage lang

Im Verlauf der nachfolgenden Tage, Wochen, Monate und Jahre erlebte Reid Stowe (und zu Beginn gemeinsam mit seiner Partnerin) unzählige Stürme, Flauten, Wal-Begegnungen, treibende Container-Sichtungen… kurz: für Langfahrt- und Blauwasser-Segler eher „alltägliche“ Ereignisse.

Nachdem Soanya den Schoner verlassen hatte, nahm Reid Abstand von seinem ursprünglichen Vorhaben, mindestens dreimal nonstop um die Welt zu segeln. Er entdeckte auf seine Art die Langsamkeit, trieb oft wochenlang durch die See und konzentrierte sich auf das Abenteuer „Slow down“ – um Zeit für seinen Rekord zu gewinnen.
Künstler Stowe malte viel, schrieb lange Tagebücher und „konzentrierte sich vor allem darauf, nicht verrückt zu werden“, wie er das später einmal formulierte. Oftmals fühlte er sich „wie in einer Kapsel im Universum“ und weit entfernt von der See. Zwischendurch grölte und schrie er aus vollem Hals, führte seltsame Tänze auf und war froh, dass ihn dabei niemand beobachten konnte. Solche emotionalen Ausbrüche halfen und bewahrten Reid Stowe maßgeblich vor einem Einsamkeits-Koller.
„Es gab Tage, da war ich des Blaus um mich herum so überdrüssig, dass ich mir Plastikfolien orange oder grün anmalte und sie vor meine Augen hielt“. Was wiederum verrückt erscheinen mag, doch aus psychologischer Sicht den einsamen Einhandsegler vor dem totalen Wahnsinn bewahrte.

©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook
©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook

Irgendwann war die Sehnsucht nach dem an Bord gezeugten und noch nie gesehenen Sohn dann doch zu groß und Stowe segelte Richtung Heimat. Nicht ohne gewisse Rekorde vorher noch eben mal schnell „abzuhaken“. Als die „Anne“ am 17. Juni 2010 die Freiheitsstatue vor New York passierte, ging somit der längste Nonstop-Segeltörn aller Zeiten zu Ende. Mit 1.152 Tagen nonstop auf den Ozeanen unseres Planeten segelte Reid Stowe in die Geschichte der Seefahrt. Doch nicht nur dies: Die 306 gemeinsamen Tage von Stowe und Ahmad sind die längste Zeit, die ein Paar ohne Anlanden auf offener See verbracht hat, und die längste Zeit, die eine Frau ohne Landgang auf See segelte.
Die verbleibenden 846 Tage, die Stowe alleine war, sind auch ein Rekord für die längste Solo-Seefahrt ohne Nachschub.

Zweischneidig

Doch obwohl gerade die US-Amerikaner gerne ihre ganz besonderen Helden feiern, wurden Stowes Rekorde nur wenig bis gar nicht gewürdigt. Im Gegenteil, Stowe stellte ungewollt während seines Törns einen eher fragwürdigen, weiteren Rekord auf: den des am meisten geschmähten Seglers im Internet.
Für Reid Stowe war das Internet so etwas wie ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite erlaubte es ihm in häufigem Kontakt mit der Welt zu bleiben und seine Reise „live“ zu dokumentieren. Andrerseits war wohl kaum jemals ein Segler so vielen Schmähungen noch während seiner Reise ausgesetzt wie Reid Stowe.
Ausgerechnet die Kommentatoren einer Segel-Website, die den Begriff „Anarchie“ als Marke proklamiert, zeigten sich als besonders hartnäckig und „giftig“.

©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook
©reid stowe/Mars Ocean Odyssey/Facebook

Der Internet-Thread zählte über 1.100 Seiten, enthielt nahezu 30.000 Beiträge und registrierte über eine Million Zugriffe. Unter anderem wurde Stowe heftig attackiert, weil er in jungen Jahren Marihuana schmuggelte, dabei erwischt und zu neun Monaten Gefängnis verurteilt wurde (die er vollständig „absaß“). Weiterhin häufig kritisiert wurde Stowes „egoistisches Verhalten“, als er seine junge Partnerin alleine das Kind zu Welt bringen ließ, während er auf See weiter Rekorde einstellte. Zudem wurde dem Marathon-Segler ein „Hang zur Übertreibung“ vorgeworfen – seine Rekorde wurden jedoch nie ernsthaft angezweifelt, weil sie letztendlich lückenlos dokumentiert waren.

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