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Wozu braucht man eigentlich ein Boot?

Gedanken zu einer scheinbar banalen Frage

Wozu braucht man eigentlich ein Boot?
Freitagabend an Bord. So schön kann das Wochenende beginnen. © Swedesail

Na zum Fahren halt! Aber mal ernsthaft: warum träumen so viele von einem Boot und wieso ist Haben meist wichtiger als damit Ablegen? Was ist also die tatsächliche Funktion eines Bootes? Dazu gibt es eine Reihe interessanter Antworten. Gut möglich, dass Sie in den folgenden Beispielen Ihre eigenen Motive wiederfinden.

Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 19.04.2022

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • Bekenntnisse illustrer Eigner
  • was im Thema Boot steckt
  • was ein Sexualforscher und Therapeut dazu weiß
  • welche Funktion das Boot für das Landleben hat
  • warum es unbedingt ein eigenes Boot sein muss
  • warum haben oft schon reicht
  • das Boot als Lebensmotto/Programm

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Die beste Antwort stammt von einem, der bereits als Jugendlicher vom Leben als Seenomade träumte; der seinen Traum dann mit zwei legendären Törns und für Jahrzehnte an Bord oder in der Nähe seines Bootes lebte:

Ein Boot ist Freiheit, kein Transportmittel

Bernard Moitessier

Bernard Moitessier unterwegs mit "Joshua" im Südpazifik
Bernard Moitessier unterwegs mit "Joshua" im Südpazifik © Archiv Bernard Moitessier

Falls wir nicht zum Geldverdienen an Bord müssen, ist das der zentrale Punkt. Ganz gleich, ob es sich um das Kajak für den Fluss, die Jolle am Baggersee, den Kleinkreuzer an der Talsperre handelt, oder die seeklare Yacht an der Küste. Der Urtrieb nach Unabhängigkeit ist der Ausgangspunkt. Das Boot ist das Vehikel dazu, und natürlich mehr - eine wahrlich mit Emotionen bepackte Projektion. Dass dieses Verlangen so groß ist, ist Ergebnis der allgegenwärtigen Begrenzungen, der Enge und lästigen Vorschriften unseres Landlebens. "Immer wenn ich merke, dass ich grämliche Falten um den Mund bekomme, immer wenn müder, nieselnder November meine Seele erfüllt (...) dann halte ich’s für allerhöchste Zeit, zur See zu gehen, und zwar sofort" erklärt Ismael in Herman Melvilles "Moby Dick" die Sache. Irgendwann langt's, müssen wir mal raus und durchatmen.

Als Ticket zur Freiheit

Mit dem Boot gibt man sich selbst das Versprechen, das genormte Leben regelmäßig oder eines Tages dann ganz achteraus zu lassen. Solo, mit dem Partner, der Familie oder Freunden. Im Urlaub, beim lange geplanten Sabbatical oder ab Tag X nach dem Arbeitsleben. Ob und wie dieses tolle Ticket, wie es in jedem Boot steckt, dann eingelöst wird, ist eine andere Frage. Wer lieber handelt, statt träumt, macht es einfach. Es gibt viele Beispiele dafür, siehe YouTube. Vielen genügt bereits das schöne Gefühl, überhaupt zur großen Reise ablegen zu können, ohne es jemals zu tun.

Die berühmte "Joshua" während ihrer 1 1/2-fachen Weltumsegelung
Die berühmte "Joshua" während ihrer 1 1/2-fachen Weltumsegelung © Archiv Bernard Moitessier

Anscheinend genügt vielen der lange zelebrierte Weg dorthin. Denn bereits die Vorbereitung macht so viel Spaß. Ich beobachte im Winterlager und in den Häfen Eigner und Paare, die ringsum zufrieden mit ihrem Boot sind. Sie sind stolz und glücklich es zu haben, es zu putzen und zu reparieren. Sie kommen Freitagabend, werkeln das ganze Wochenende und trennen sich Sonntag zögernd und zaudernd. Damit abzulegen ist anscheinend nicht so wichtig. Sie haben bestimmt schon mal vom berühmten Landfahrtsegler Bernard Moitessier und seiner 1 1/2-fachen Weltumseglung gehört. Falls Sie meinen, der Mann sei dauernd unterwegs gewesen: Von Überführungen und kurzen Törns abgesehen, hat Moitessier im Wesentlichen zwei legendäre Seereisen gemacht. Die meiste Zeit verbrachte Moitessier und seine "Joshua" in Tahiti und einem nahegelegenen Atoll, unter anderem für ein Entwicklungshilfeprojekt. Moitessier hat es in seinen lesenswerten Erinnerungen "Tamata" beschrieben. Das Buch ist in Deutsch erhältlich.

Wann legst Du ab?

Wilfried Erdmann

Vor vielen Jahren begegnete ich mal dem berühmten Segler Wilfried Erdmann auf der Trave. Erdmann und ich kannten uns vom gemeinsamen Buch "Segeln auf See". Nachdem er sich mein Boot interessiert angesehen hatte, meinte der wortkarge Kauz: "Schönes Schiff. Wann legst Du ab?" Immer wieder habe ich an die Begegnung gedacht. Sie wurde zum Anlass für diesen Blogbeitrag. Damit wären wir beim zweiten Motiv, dem Boot als selbst gewählter Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, als gern geschultertem Projekt.

Das Boot als beglückende Endlos-Agenda

Als Projekt

Wir Menschen sind Nestbauer. Wir lieben es, uns neu einzurichten. Wenn es ein brauchbares Zuhause gibt und beruflich läuft, ist die Stunde des neuen Projekts gekommen. Das Boot ist, ganz gleich, ob neu oder gebraucht, die ideale Agenda jenseits von Pflicht und Kür des Arbeits- und Landlebens. Denn auch das werftneue oder gepflegte Gebrauchtboot ist für die eigenen Ansprüche herzurichten. Es wird umgebaut oder repariert. Ich sehe in den Bootsbiotopen, an den Landstellplätzen, in Vereinen und Marinas Eigner, die mit leuchtenden Augen die Werkzeugkisten an Bord schleppen und von früh bis spät bauen, aus- und verbessern, fremden oder eigenen Altmurks beseitigen. Seit einer Weile bin ich einer von ihnen. Früher bin ich einfach nur gesegelt und habe soeben das Allernötigste an Bord gemacht. Obwohl die Erfahrung der letzten beiden Jahrzehnte es nicht bestätigt, glaube ich immer noch daran, irgendwann mal "fertig" zu werden. Dabei ist ein Boot mit all seinen daran hängenden Jobs eine Lebensform und als solche eine Art Glück. Da findet jeder für sich die passende Balance. Segeln, ganz besonders der Genuss konzentrierten Regattasegelns, hilft.

Wer Geld hat, betreibt so ein Projektleben natürlich anders, im großen Stil. Vor einigen Jahren lernte ich in Southampton auf einer Großbaustelle namens "Mirabella V" mal den früheren Avis Boss Joseph Vittoria kennen. Ein ringsum gelassener, freundlicher und angenehmer Mann. Unnötig zu erwähnen, dass er einen gut sitzenden Anzug statt Blaumann trug. Ich bin ziemlich sicher, dass er nie eine Sikaflexpresse in der Hand hatte. Vittoria hatte sich mit mehreren Booten nautisch in die Top-Liga projektiert. Sein aktueller Showcase war damals, mit 75 m Länge mal was richtig Großes vom Stapel zu lassen und mit 90 m Mast aufzutakeln. Damit sind wir beim dritten und in meinen Augen leider auch langweiligsten Grund angelangt, dem Boot als prototypischen Angeber- und Männerding.

Der 75 m Schlitten "M5" ex. "Mirabella V" vor der griechischen Insel Paxos
Der 75 m Schlitten "M5" ex. "Mirabella V" vor der griechischen Insel Paxos © Wolfii CC BY-SA 4.0

Als Egovergrößerung

"Männer brauchen etwas, das sie manipulieren können und mit dem sie ihr eigenes Ich erweitern: ein Gerät wie das Auto, das Skateboard oder auch ihre Gitarre. Mit diesem "extended Self" gehen sie in die Welt hinein, erobern sich einen Raum und werden größer, als sie eigentlich sind. Solche Selbsterweiterungen sind für Männer sehr erhebend. In einem metaphorischen Sinne könnte man dabei tatsächlich von Potenz sprechen." So erklärte der Paartherapeut und Sexualforscher Prof. Dr. Ulrich Clement 2015 einmal im "Zeit Magazin" die Ding-Fixierung von Männern. Die tolle Yacht ist natürlich eine andere Kampfklasse als ein schickes Auto oder die coole Gitarre. Je größer, schneller und auffälliger das Boot, desto eher wird es gesehen und der Eigner bewundert. Ist der Mast so hoch wie der Big Ben des Westminster Palace, funktioniert das ziemlich sicher. Siehe das Foto der "M5" vor Anker.

Als Fetisch

Dennoch wäre es zu einfach, das große oder tolle Boot pauschal als Spielzeug infantiler kleiner Männer abzutun. Ich begegne ab und zu mal solchen Playern. Meist machen die einen ziemlich kompletten und auch gelassenen Eindruck. Außerdem gibt es auch Frauen, die groß auftakeln. Jeder, der einmal der langjährigen Eignerin der J-Class Yacht "Endeavour" begegnet ist, wird bestätigen: Die Amerikanerin Elisabeth Meyer ist eine präsente und durchsetzungsfähige Geschäftsfrau. Wer sonst hätte den Rohbau in Südengland in das weithin bewunderte Traumschiff verwandelt? Es ist Ehrgeiz und Spaß am Verwirklichen eigener Ideen, am Machen und Gelingen. Gewiss auch die Lust an der schieren Größe und stattlichen Aufgabe. Sie lebt ihre Segelbegeisterung längst mit einem halb so langen Boot weiter.

Das Boot als Fetisch. Vorne rechts Elisabeth Meyer
Das Boot als Fetisch. Vorne rechts Elisabeth Meyer © Archiv Elisabeth Ernst Meyer

Das Boot als stimmig schöne Welt

Von gelegentlichen Besichtigungen und Probefahrten großer Schlitten auf der Kieler Förde, in Holland, Italien, England, Finnland oder den Staaten weiß ich, was große oder tolle Schiffe mit einem Machen. Ich kann nicht genau sagen, ab welcher Finesse, Coolness, Eleganz oder Klasse, ab welcher Länge und Breite über Deck es diesen speziellen Kick beim Schritt an Bord gibt. Sicher ist, dass immer dieses beglückende, überwältigende Gefühl da ist - wie bei einer Weihnachtsbescherung, die einen komplett aus den Socken haut. Bei großen Booten kommt das Missverhältnis von Mensch und Spielzeug hinzu. Das Bild von "Endeavour"-Rohbau vor dem Stapellauf in Calshot Spit bei Southampton zeigt es. Gucken Sie mal, wie viele Sprossen die ans Boot gelehnte Leiter hat.

An Bord des Zweimasters "Hetairos" beispielsweise beeindruckt das schöne Handwerk, die stimmige, funktionale und auch heile Welt. Interessanter noch als die bloße Größe finde ich allerdings die Schönheit eines Bootes, beispielsweise des Zweimasters Orion of the Seas.

Getoppt wird dieses Erlebnis vom Genuss, ein seglerisch perfektes Boot zu steuern. Ich hatte mal das Vergnügen, die knapp 40 m lange J-Class Velsheda im Solent zu segeln. Ein Gänsehautmoment war es auch, die Wally 143 "Esense" unter 900 Quadratmetern eine Weile ungestört in der Adria zu segeln. Es ist phantastisch, solch einen Schlitten mit fein dosierten Kurskorrekturen im unsichtbaren, dennoch sehr präsenten idealen Windwinkel zu steuern.

Das Boot als Auszeitspender

Zum Angeln

In Amerika heißt es kurz und bündig: "A boat is a platform to fish from". Mit einem Buddy nachmittags nach der Arbeit oder am Wochenende zu den richtigen Spots püttern und gucken, was geht, ist eine erholsame Sache.

Zur Kompensation entbehrter Macht?

An Bord des eigenen Bootes segele ich mit gelegentlichen Besuchern, Gästen oder Freunden. Vor einigen Jahren lernte ich einen älteren Mann kennen, der dazu neigte, am Steuer in eine komplett andere Rolle zu rutschen. Am Rad hinter dem Reitbalken meines Bootes hockend, verwandelte sich der feine, hilfsbereite Kerl plötzlich zum unangenehmen Herrensegler mit seltsamen Allüren. Mancher braucht anscheinend für so ein komisches Rollenspiel ein Boot.

Man braucht eins zum Segeln
Man braucht eins zum Segeln © Swedesail

Als Familienarche

Ein wunderbarer Anlass für das eigene Boot ist die Idee, der Familie und der gemeinsamen Zeit mit den Kindern ein Motto und Thema zu geben. Dabei geht es weniger um die Reise oder den großen Törn, eher das andere, das herrlich maritime Umfeld, den Hafen oder die Bucht mit all den Möglichkeiten zum Baden, Schlauchboot fahren und draußen spielen.

Eine besondere Familien-Boots-Geschichte, weil mit einem tollen Schiff mehrere Generationen überspannende Story, ist die der Seglerfamilie Schmidt. Oft ist es auch so, dass der Betrieb des Bootes zur Bürde wird, wenn die Yacht aus Holz ist, oder sie in die Jahre kommt. Dann müssen die Jungen ran, lernen über Tugenden wie Umsicht, Rücksicht, Vorsicht auch, was es heißt Verantwortung zu übernehmen. Hinzu kommt das handwerkliche Geschick. Das ist in unserer modernen, digitalen, in mancher Hinsicht leider auch kaputten Welt mit endlos vielen Möglichkeiten zur Ablenkung und dem ganzen virtuellen Kram wichtig. Ein Boot verlangt auch ohne eitel, Sonnenschein Aufmerksamkeit. Es kann zum perfekten Auszeitspender für die Familie werden.

Als Zufriedenheitsmaschine

So wie Fender zur Kaimauer, zwischen den Nachbarbooten und der Bordwand für den nötigen Abstand sorgen, so funktioniert ein Boot. Gern büxe ich für einige Tage mit drei machbaren Projekten an Bord meines Bootes aus. Bereits nach wenigen Stunden, wenn der erste Job gerade erst ins Laufen kommt, bin ich zufrieden. Natürlich könnte ich auch mit dem Hund gehen. Von gelegentlichen Hundespaziergängen weiß ich, dass das auch schön und ausgleichend ist. Ich finde, an Bord gehen besser. Dazu muss es übrigens nicht unbedingt schwimmen. Es kann auch im Winterlager an Land stehen. Denn es fährt schon aufgebockt im Winterlager, jedenfalls in meinen Augen.

Manchmal langt es, einfach irgendwo zu ankern
Manchmal langt es, einfach irgendwo zu ankern © Swedesail

Zum Draußensein

Schöner als an Bord zu werkeln, ist es natürlich einfach irgendwo auf dem Wasser zu chillen. Das geht am besten vor Anker. Das Wasser murmelt die Bordwand entlang. Man hat das Gefühl unterwegs zu sein und ist es doch nicht. Das Boot schwojt im Wind oder der Strömung. Man lungert auf den Polstern in der Plicht, döst, geht seinen Gedanken nach, hört den Möwen zu. Erholung pur. Ich liebe es, den Samstag ringsum ungestört an Bord zu verbringen. Viele Motorbootfahrer halten es genau so, wobei sie natürlich viel mehr Komfort haben. Das breite Achterdeck bietet reichlich windgeschützten Platz und der Weg zur schönsten Badeanstalt der Welt, dem Meer, ist kurz. Im Vorwort zu seiner Magellan-Monografie "Der Mann und seine Tat" berichtet Stefan Zweig von den "täglichen Vexationen", den Verstrickungen des Landlebens. Er erwähnte sie während einer Schiffspassage nach Südamerika in den Dreißigerjahren. Keine Ahnung, ob ich an Bord eines Dampfers oder eines gut belegten Kreuzfahrtschiffes mit dem Kopf frei bekäme. An Bord eines Bootes klappt es alleine, zu zweit oder mit guten Freunden derart, dass ich es nur empfehlen kann.

Zum Segeln

Einer der schönsten Orte dieser Welt ist die Reibfläche zwischen Wind und Wasser. Die lässt sich nur mit einem Boot erkunden. Je nach Wind, Wellen, Strömung, Tageszeit und Bewölkung ist sie jedes Mal anders. Sich darin mit summender Takelage und plätschernder oder rauschender Bugwelle zu bewegen, macht endlos Spaß. Bereits beim kernigen Klang meines betagten Dreizylinder-Volvo beim Ablegen bin ich jedes Mal hin. Ich mag sogar den Müffel schlecht verbrannten Diesels der kalten Maschine. Tja, und wenn wir dann in freiem Wasser Groß und Fock wie früher von Hand himmelwärts gezerrt und dicht geholt haben, wenn sich das Boot leicht auf die Seite legt und Fahrt aufnimmt, geht die Party los. Es gibt kein schöneres Spielzeug als ein Segelboot.

Die schönste Art, frei zu sein
Die schönste Art, frei zu sein © Swedesail
VG