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Splendido
Wie klassisches Segelspielzeug dem Betrachter die Sicherung rausdreht

Seit 1910 bringt der Fahrtenschoner «Orion of the Seas» Sehleute, Spaziergänger und Segler um den Verstand. Er dreht die Besitzverhältnisse zwischen Eigner und Schiff augenblicklich und dauerhaft um.
Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 20.04.2021, aktualisiert am 26.05.2023
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- wer das Schiff entworfen und gebaut hat
- wie viele Eigner und Namen es gab
- Wissenswertes zur Takelage
- was aus der berühmten Camper & Nicholsons Werft wurde
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Sie heißt «Orion of the Seas». So unbescheidene Namen haben sonst nur Kreuzfahrtschiffe. Als solches war sie auch gedacht. Allerdings als privates Meeresdomizil. Denn es macht keinen Spaß, mit einer Horde hungriger Zeitgenossen am Buffet anzustehen. Hier wird im kleinen Kreis à la carte gespeist, werden hübsche Häfen an der italienischen Riviera angesteuert, die gleich nebenan «Golfo Paradiso» heißen.
Sanft schwankt der Schlitten in der Dünung, die vom ligurischen Meer zwischen die Promenade von «Portus Delphini» schwappt. So nannten die alten Römer den Naturhafen Portofino. Vor einer Weile in Gosport bei Camper & Nicholsons als «Sylvana» aufgetakelt, zählt «Orion» zur Kategorie von Yachten, die die Besitzverhältnisse umkehren. Bisher wurden zwölf verschiedene Eigner von ihr in Beschlag genommen. Sie gaben ihm 5 verschiedene Namen, wobei es seit 1930 bei «Orion» blieb. Der nächste darf sich gerne zu POA-Konditionen übernehmen lassen. Diese drei Buchstaben stehen für «Price on Application» und sind ein Kürzel für richtig teuer. Wer sicher ist, ihn und die Betriebskosten mit links zu stemmen und näheres wissen möchte, wende sich vertrauensvoll an die freundlichen Herren der Sandeman Yacht Company.
Etwa die Hälfte ihrer Länge schwimmt. Der Rest schwebt
Dieses Verhältnis bringt Augenmenschen um den Verstand. Die Werft war eine Weile im Thema, als sie das Segelspielzeug nach Plänen von Inhaber Charles Nicholson ihrem ersten Eigner übergab. Der hatte ganze drei Jahre das Vergnügen.
«Sylvana» entstand als «auxiliary schooner». Auxiliary bedeutet, dass es einen Hilfsmotor gab, damals eine leider brustschwache Paraffinmaschine, die mit Ach und Krach für Hafenmanöver reichte. Das Bremsmanöver musste nicht bloß rechtzeitig, es musste sehr früh eingeleitet werden. Motoren spielte beim Bootsbetrieb damals noch eine untergeordnete Rolle. Das Schiff war zum Fahrtensegeln mit einem komfortablen Deckshaus zwischen den Masten gedacht. Dort ißt es sich schön à la carte, man kann unbehelligt vom Wind Zeitung lesen und den zweiten Kaffee wirken lassen.
Der Schoner wurde in der Belle Époque zum Genußsegeln verfeinert
Schonergetakelte Zweimaster, deren hinterer Mast den vorderen überragt, hatten sich in der ausklingenden Ära der besegelten Schifffahrt in der Fischerei und für Lotsendienste mit kleiner Besatzung bewährt. Die Takelage wurde in der Belle Époque dann zum Schnell- und Genußsegeln verfeinert.
Der Blick vom Kirchenvorplatz von San Giorgio über Portofino auf das Segelspielzeug erinnert an die Schwärmerei Joseph Conrads, der "Schoner als Vögel der See" beschrieb. Vor einem Jahrhundert, als von Hand und mit Flaschenzügen statt Winschen dichtgeholt wurde, ging das nur mit dieser, auf mehrere handhabbare Flächen unterteilten Besegelung. «Orion» setzt bis zu acht Tücher.
Mangels Baumstämmen in der nötigen Länge, waren die Masten zweiteilig. Der untere Maststumpf wurde mit einer separaten Stenge für das Topsegel verlängert. Anlässlich der letzten Generalüberholung wurde der Großmast 2005 mit einer weiteren Stenge zugunsten eines größeren Topsegels gestreckt. Wie der Werbefilm des Yachtmaklers Sandeman zeigt, segelt der Schlitten bereits bei einem lauen Lüftchen. Das gewaltige Großsegel über dem 22 m langen Baum ist dabei der Turbo. Bei drei Windstärken pflügt man damit ins seglerische Nirwana. Das wäre den POA, die Gehälter für die siebenköpfige Besatzung, einschließlich Koch, Messingputzer und weitere wiederkehrende Aufwendungen wert.
Vor einigen Jahren besuchte ich einmal den vorübergehenden «Altaïr»-Eigner, Autosammler, Häuser- und Bootsrestaurator Albert Obrist in seinem wunderbaren Haus in Gstaad. Er erzählte, dass er sich seinen Schoner lieber im Hafen aus der richtigen Perspektive anguckte, als ihn zu segeln. Segeln, wo meinte er wörtlich, fände er "zwar auch ganz schön, aber nicht so interessant". Das erschien mir damals schräg. Beim Blick von San Giorgio auf das große Ganze des privaten Kreuzfahrtschiffes mit dem unbescheidenen Namen ist es beinahe zu verstehen.
Orion of the Seas
Konstrukteur: Charles E. Nicholson
Werft/Baunummer/Baujahr: Camper & Nicholsons Gosport/# 191/1910
Bauweise: Teakplanken auf Stahlspanten
Länge über alles: 49,40 m
Länge über Deck: 44,80 m
Länge Wasserlinie: 27,50 m
Breite: 7,50 m
Tiefgang: 4,20 m
Verdrängung: 220 t
Großmast (verlängert): 53 m
Segelfläche: 1.200 - 2.250 qm
letzte Generalüberholung: 2003 - 5
Barkasse für 12 Personen
Camper & Nicholsons
Die 1782 in Gosport gegründete Werft war eine Weile die erste Adresse englischen Yachtbaues. Hier liefen America's Cupper oder königliche Yachten wie der Drachen "Bluebottle" vom Stapel. In der Southamptoner Zweigstelle entstand die erste große Diesel-Motoryacht und später mit „Philante“ die heutige norwegische Staatsyacht „Norge“. Anfang der Siebzigerjahre beschäftigte C&N 1.250 Mitarbeiter und baute unter anderem robuste, weithin geschätzte Kunststoffyachten. 2001 wurde die Werft vom italienischen Modekaufmann Leonardo Ferragamo übernommen. Die „älteste und glamouröseste Yachtmarke der Welt“ mit dem Bau von Motorbooten im Retrostil zu reanimieren, gelang jedoch nicht. Im Dezember 2005 wurde "C&N" geschlossen. Das von Jeremy Lines aufgebaute Archiv mit Unterlagen zu knapp 3 1/2 Tausend Booten wird heute vom italienischen Yachthistoriker Enrico Zaccagni in Italien geführt: www.cnyachting.com
Mit dem Yachtmakler "Camper & Nicholsons International" und "Camper & Nicholsons Marinas Ltd.", einer Entwicklungs- und Betreibergesellschaft von Yachthäfen, gibt es zwei weitere Firmen mit ähnlichem Namen.
Lesenswert
Ian Dear, Camper & Nicholsons. Two Centuries of Yacht Building, London 2001