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Umwelt- und Meeresschutz7 min Lesezeit

Zurück in die Zukunft

Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für die emissionsfreie Schifffahrt der Zukunft

Zurück in die Zukunft
Grain de Sail II setzt zum ersten Mal die Segel – die Zukunft des Frachtsegelns hat begonnen!

Es ist nur ein klitzekleiner Schritt für die Menschheit im Kampf gegen den Klimawandel. Und doch geht er in die richtige Richtung: Im Jahr 2024 werden drei Frachtsegler-Neubauten die Segel setzen, deren Ausmaße die Bezeichnung „Schiff“ voll und ganz erlauben: Die „Grain de Sail II“ (52 m), die „Anemos“ und „Artemis“ (jeweils 81 m).

Von Michael Kunst, veröffentlicht am 23.02.2024

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • Warum Frachtsegeln Zukunft hat
  • Wie neu gebaute Frachtsegler in beeindruckenden Ausmaßen die Schifffahrt verändern können
  • 52 und 81 Meter Länge – beeindruckende Frachtsegler-Neubauten mit Heimathäfen in Frankreich
  • Zwei französische Reeder wagen den Sprung ins Kalte Wasser
  • Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für die Schifffahrt der Zukunft

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Dass die Franzosen in Sachen „modernes Frachtsegeln“ eine Art Vorsegler im Sinne von Vorreiter sind, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Boot24 hat bereits mehrfach darüber berichtet, zuletzt hier: Frachtsegler

Zwar gibt es auch in anderen Ländern Projekte und Initiativen, die bislang auf alten, meist liebevoll restaurierten Holzschiffen das Frachtsegeln wieder aufleben ließen und lassen. Doch die Ehre der Premiere, neue Frachtsegelschiffe zu bauen, auf denen Güter im größeren Stil nahezu emissionsfrei unter Segeln transportiert werden, gebührt den Franzosen.

Apropos emissionsfrei. Die Formel „Schiffe, die vom Wind angetrieben werden, sind emissionsfrei unterwegs“ gilt selbstverständlich nur fürs Segeln als solches. Werden Flautenpassagen mit (Verbrenner-)Motorkraft überbrückt oder wird der Frachtsegler im Hafen unter eigenem Motor oder mit Schleppern geparkt, entstehen logischerweise Emissionen. Ganz zu schweigen vom Bau der Schiffe, bei dem jeweils in Rumänien und Vietnam (darüber später mehr) ein mit Sicherheit enormer Fußabdruck hinterlassen wurde. Doch ähnlich wie bei den Elektroautos und deren Emissionslast bei der Produktion von leistungsfähigen Batterien, gilt ebenso beim Frachtsegeln: „Um ein Ziel zu erreichen, muss man sich zunächst auf einen Weg respektive eine Route begeben.“ Wie zuvor erwähnt: Ein kleiner Schritt für die …

Sprung ins kalte Wasser

Die am 11. Januar 2024 in St. Malo getaufte Grain de Sail II markiert diese neue Etappe in der modernen, ökologisch verantwortungsvollen Frachtsegelei mit beeindruckenden Zahlen und Werten: 52 m Länge über alles, 10,7 m Breite, 1.500 qm2 Segelfläche am Wind, Verdrängung 300 t.

Das Schiff wurde von der französischen Werftengruppe Piriou in deren Dependance Ho-Chi-Minh-Stadt/Vietnam auf Kiel gelegt und gebaut. Im vergangenen Herbst wurde die Grain de Sail II zunächst nach Lorient zum Setzen der beiden Masten (Hauptmast 48 m und Besanmast 44 m) und schließlich in seinen Heimathafen St. Malo überführt.
Eigner sind die beiden Brüder Olivier und Jacques Barreau, ihres Zeichens in der Bretagne bekannte Patissiers, die vor einem Jahrzehnt die Idee hatten, ihre Rohstoffe wie Kakao-Bohnen, Rum etc. direkt aus der Karibik auf klassischen, renovierten Frachtseglern zu transportieren.

© Grain de Sail
© Grain de Sail

Wie schon die „II“ beim großen Grain de Sail-Schiff suggeriert, sprangen die Barreau-Brüder bereits mit einem ersten Frachtsegler regelrecht „ins kalte Wasser“. Vor zwei Jahren ließen sie in Nantes einen 60-Fuß-Frachtsegler (20 m) bauen, der auf den ersten Entwürfen eher wie ein Vendée Globe-IMOCA aussah, als ein Frachtsegler. Der endgültige Riss hatte dann zwar immer noch den Charakter eines Performance-Cruisers, doch müssen moderne Frachtsegler wirklich so behäbig aussehen wie ihre Vorfahren aus Holz?

Transat: Von 25 auf 16 Tage verkürzt

Mit der Grain de Sail II werden nun Transport- und Leistungswerte erreicht, welche die vermeintlich „sportlichere“ und deutlich kleinere Version I deutlich in den Schatten stellen. Die Ladekapazität wird von 50 t auf 350 t steigen, es werden höhere Etmale erzielt (12-13 kn), was wiederum die Reisezeit über den Atlantik im Vergleich zum ersten Grain de Sail-Frachtsegler von 25 auf 16 Tage verkürzen wird.
In Kürze wird die Grain de Sail II zu ihrer Jungfernfahrt aufbrechen und eine „klassische“ Frachtlinie zwischen Saint Malo/Bretagne und New York / USA eröffnen. Im Terminplan des Frachtseglers sind fünf bis sechs New-York-und-zurück-Törns vorgesehen, was die jährliche Ladekapazität (wieder im Vergleich zur ersten Grain de Sail) von 100 t auf 1.000 bis 1.500 t erhöhen wird.

Zu dieser optimistischen Einschätzung in Bezug auf die Ladung haben die Barreau-Zwillinge übrigens allen Grund. Mittlerweile interessieren sich viele Firmen, die nicht unbedingt etwas mit dem Patisserie-Gewerbe zu tun haben, ebenfalls für den emissionsfreien Transport unter Segeln. Denn das Label „unter Segeln emissionsfrei transportiert“ hat auf den unterschiedlichsten Produkten bereits einen Mehrwert verursacht, der es bis in die Regale der großen französischen Supermärkte geschafft hat.
Mit anderen Worten: Hier wird ein neuer Markt erschlossen, der zukunftsweisenden Charakter aufweist.

Sechs Personen für 1.500 qm Segelfläche

Als Crew wird die Grain de Sail II lediglich sieben Personen benötigen. Zwei Wachen à drei Personen fürs Segeln plus einen Koch respektive eine Köchin. Um die gigantische Segelfläche zu beherrschen, sind zwei riesige hydraulische Harken-Winschen mit bis zu 9 t Arbeitslast und einem Kräfteverhältnis von 86 :1 direkt am Mastfuß installiert. Lediglich je eine Harken Winsch back- wie steuerbords dient für den Vorsegeltrimm.

Auf Atlantikreise mit der "kleinen" Grain de Sail

Alles ist auf Einfachheit ausgerichtet, weniger ist auch hier mehr – einige Besonderheiten hat die Grain de Sail dann doch. So sind etwa temperierte Fächer unter Deck installiert, in denen später Weine transportiert werden sollen. Nicht zum Verkauf in New York, sondern um im Seegang des Atlantiks hin und zurück zu reifen.

Sollte Grain de Sail einmal nicht voll beladen unterwegs sein, werden die Wasserballast-Tanks gefüllt. Die wiederum mit speziellen Filtern ausgestattet sind, um eine Verunreinigung beim späteren Leeren der Tanks durch artfremde Flora und Fauna zu vermeiden.

© Grain de Sail
© Grain de Sail

Wie selbstsicher und optimistisch die Barreau-Gebrüder neben ihren Patisserien das Frachtsegel-Business angehen, zeigt sich auch in ihren Visionen: Schon 2026 wollen sie alle zwei Wochen von Saint Malo aus Richtung New York starten. Dazu brauchen sie noch drei weitere Schwesterschiffe der Grain de Sail II.

Investoren aus den Schokolade-, Wein- und Parfum-Branche zeigen bereits großes Interesse. Entscheidungen zum Baubeginn werden wohl noch im Jahr 2024 fallen.

Segelgiganten kontra Klimakrise

Ungleich größer präsentieren sich zwei weitere Neubauten in der jungen Frachtsegel-Branche. Die französische Agentur und Reederei TOWT – bereits seit 2011 als Schiffsagentur für bis zu 18 Vintage-Frachtsegler aktiv – hat zwei 81 Meter lange Segelschiffe der „Phenix-Klasse“ ebenfalls von der französischen Werft Piriou bauen lassen. Ihr zukünftiger Heimathafen wird Le Havre sein, die späteren Destinationen der Frachtsegler liegen – ähnlich wie bei Grain de Sail – auf der anderen Seite des Atlantiks in Guadeloupe, aber auch in Brasilien und Nordamerika.

Die Anemos und Artemis befinden sich derzeit in der letzten Ausbauphase, auf beiden Schiffen werden in Kürze jeweils zwei Karbon-Masten gesetzt.

Ende August 2023 kam der Rumpf der Anemos auf „eigenem Kiel“ im bretonischen Städtchen Concarneau an. 43 Tage lang wurde der Frachtsegler vom rumänischen Giurgiu, wo Piriou ebenfalls eine Werft-Dependance hat, Richtung Frankreich geschleppt.
In Concarneau wird derzeit an den letzten Innenausbauten sowie an der Installation der gesamten Elektronik gearbeitet.

3.000 Quadratmeter Segelfläche für 11 kn-Etmale

Die Artemis wird dagegen – wie bereits die Grain de Sail II – in der Piriou-Niederlassung Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam gebaut. Auch dort sind nahezu alle Arbeiten am Rumpf und Innenausbau mittlerweile erledigt. Für die beiden Kolosse des Frachtsegelns stehen nun die wohl wichtigsten Arbeiten an: das Setzen der jeweils zwei Masten und die Installation der Takelage, inklusive stehendem und laufendem Gut.

© TOWT
© TOWT

Und bei den Themen Takelage und Rigg wird es indessen wirklich gewaltig: Vierzig Prozent der Gesamtkosten entfallen darauf, 3.000 Quadratmeter Segelfläche sollen den Zweimaster auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 10 bis 11 Knoten bringen.

Die Masten sind vollständig aus Karbon gefertigt und wurden bei den Regattamast-Spezialisten Lorima in Lorient hergestellt. Sie werden in zwei Teilen zu den Standorten transportiert, dort zusammengefügt und schließlich gesetzt.

CO2-Fußabdruck um mehr als 90 Prozent verringert.

Im Bauch der Segelschiffe sind drei Zwischendecks eingebaut. Darin werden ausschließlich Nahrungsmittel unterschiedlicher Art transportiert: Schüttgut wie Getreide, Paletten mit Schokolade, Fässer mit Rum oder Wein – um nur eine kleine Auswahl an Frachtmöglichkeiten zu nennen.

© TOWT
© TOWT

Im Vergleich zum Durchschnitt der Containerschiffe, welche die gleiche Strecke Le Havre - Guadeloupe zurücklegen, werden die Segelfrachtschiffe jeweils eine drastische Reduzierung der Treibhausgasemissionen pro transportierter Tonne und pro zurückgelegtem Kilometer ermöglichen:

  • 90 % CO₂
  • 98 % Schwefeloxide
  • 92 % Stickoxide


Abgesehen von den Auswirkungen auf das Klima können durch die Verwendung von Segeln anstelle eines Motors auch die Konsequenzen für die biologische Vielfalt gemildert werden: Verringerung des Kollisionsrisikos (Lärm), reduzierte Versauerung der Ozeane.

Insgesamt kommen die Frachtsegler der Phenix-Klasse somit auf einen CO2-Fußabdruck von weniger als 2 g/km/t. Zum Vergleich: ein Containerriese produziert 20g/km/t CO₂, also das Zehnfache.

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TOWT garantiert bis 2025:

  • 9.600 Tonnen CO₂;-Emissionen, die jährlich von und nach Le Havre eingespart werden.

72.000 Tonnen Güter pro Jahr, die auf kohlenstoffarmen Transport umgestellt werden.

Ein ökologischer Mehrwert, der auch für Passagiere attraktiv sein könnte. Die Anemos und die Artemis werden bei jeder Fahrt ein Dutzend „Mitsegler“ beherbergen, für etwa 150 Euro pro Nacht.

Woher das Geld kommt

TOWT wie auch Grain de Sail werden finanziell vom französischen Staat, von Unternehmen und privaten Investoren unterstützt.
TOWT hat sich auch mit der Crowdfunding-Plattform Lita.co zusammengetan, um einen „Kredit“ bei der Öffentlichkeit aufzunehmen. Mitte 2022 hat das Unternehmen bereits die erste maritime grüne Anleihe ihrer Art aufgelegt. Innerhalb von 24 Stunden hatten rund 15.000 „Investoren“ insgesamt 2 Millionen Euro zugesagt, wobei die einzelnen Zusagen von 100 Euro bis zu 100.000 Euro reichten.

Bislang haben sich die Crowd-Kreditgeber des TOWT vorrangig aus Deutschland, Belgien und Frankreich gemeldet. Die Anleihe steht jedem offen und wird über eine Laufzeit von sieben Jahren verzinst, danach erfolgt die Rückzahlung des Kapitals.

Übrigens, ähnlich wie bei Grain de Sail soll auch bei TOWT mit den beiden aktuell gebauten Schiffen nicht Schluss sein. Ab Ende 2025 sollen vier baugleiche Frachtsegler der Phenix-Klasse über den Atlantik rauschen.

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