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Klassiker9 min Lesezeit

Unter Strippenziehern

Eine wahnsinnige Geschichte vom Bodensee

Unter Strippenziehern
Arbeitsteilung auf dem Bodensee: Zwei versuchen zu Segeln, einer schaut nach dem Wind © Michael Dargel

Warum die Zulassung eines gebrauchten 30 qm Schärenkreuzers zu Regatten am Bodensee nach endlosem Theater vom Amtsgericht Konstanz geklärt wird.

Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 27.07.2022, aktualisiert am 01.10.2024

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • warum Schärenkreuzer einfach Spitze sind
  • was den Schwaben- vom 30er Schärenkreuzer unterscheidet
  • was sich seit 2013 im Fall „Aquilon“ abspielt
  • wie der Deutsche Segler-Verband dazu steht
  • warum Sie dennoch Schärenkreuzer segeln sollten
  • Tipps zum Kauf der richtigen Schäre

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Eine Klasse, drei Vermessungen, fünf Interessenvertretungen. Hinterfotzigkeiten und Strippenziehen bei den Dreißigern fast wie beim America’s Cup - für ein paar Sommerregatten auf dem Bodensee. Es ist kaum zu glauben. Wie Sie dennoch Freude an der schönsten Bootsklasse der Welt haben.

Herrliche Leichtwindmühle

Schärenkreuzer gehören zu den schönsten, ach was, sind die schönsten Segelboote unter der Sonne. Jeder, der mal einen gesehen hat, wird das bestätigen. Wer könnte sich dem Charme des flachbordigen Renners mit endlos über das Wasser gestreckten Schiffsenden entziehen? Lyonel Feininger inspirierte der Anblick Ende der Zwanzigerjahre als Motiv für seine geometrischen Bilder. Der Schärenkreuzer begeistert Liebhaber bis heute. Deshalb schreibe ich seit 1991 über diese Boote, recherchiere in Amerika, Bayern, Neuseeland, Schwaben, Schweden, Südafrika, Ungarn, veröffentliche hierzulande, in England, den USA oder Australien darüber. Wenn es ginge, würde ich auch Chinesen davon vorschwärmen. Leider fehlen mir da Kontakte. Sollten Sie einen guten Draht zum Reich der Mitte haben, melden Sie sich bitte.

Auch die breitschultrigen Spinnaker sind typisch für die Klasse
Auch die breitschultrigen Spinnaker sind typisch für die Klasse © Michael Dargel

Schärenkreuzer sind so wunderbar, dass ein Exemplar wie „Marama“ über Generationen in der Familie bleibt. Gutes Segelspielzeug sorgt mit gemeinsamen Erlebnissen und schönen Erinnerungen für Freude. Mit 13,40 m Länge auf ganze 189 cm Breite ein besonders schlankes Exemplar der 1920er-Vermessung. Andere werden nach alten Plänen von 1952 anhand der letzten wesentlichen Regeländerung von 1925 neu gebaut. Kein Wunder, dass der Bootstyp in der Schweiz und in Süddeutschland, wo es etwas mehr Geld, Zeit und Sinn für schönes Seespielzeug gibt, zu bewundern ist.

Aquilon wurde aufwendig mit viel Eigenarbeit flott gemacht
Aquilon wurde aufwendig mit viel Eigenarbeit flott gemacht © Michael Dargel

Dass es da selten Wind oder allenfalls mal unschlüssig hingehauchte Thermik hat, macht nichts. Der Bootstyp eignet sich auch zum Stehsegeln. Denn vollkommener als mit einer hinreißend eleganten Schäre lässt sich auf dem Lago nicht parken. Schönheit unter Segeln ist ein leider vergessener Gesichtspunkt.

Perfektes Parkschiff und Badeplattform

Wenn mal gar nichts geht, steigt der Liebhaber einfach außenbords und schaut sich seine Arche bei einer erfrischenden Runde im herrlich sauberen Bodensee an. Erst aus wenigen Zentimetern Augenhöhe ist die Form des klassischen Schärenkreuzers richtig zu genießen. Die Entenperspektive ist die beste. Das Geschoss wirkt dann hochbordiger.

Der geschwungene Bug, die leicht zum Deck hin eingezogene Spantform. Die kühn zum Handtaschen-großen Heck aus dem Wasser gehobenen Planken. Maronenbraunes Holz, glänzender Bootslack über dem grün schimmernden Untersee - ach. Sollten Sie mich für bescheuert halten, probieren Sie es einfach mal selbst aus. Wenn Sie im Sommer irgendwo an einer Boje solch ein Tropenholztorpedo von vorvorgestern schweben sehen, schwimmen Sie rüber. Nehmen Sie sich Zeit für die Entenperspektive.

Aquilon an der Allensbacher Boje
Aquilon an der Allensbacher Boje © Michael Dargel

Am Bodensee gibt es ein Event namens Far Niente, das dem hochsommerlichen Wenig- bis Nichtstun mit nur schönen Booten gewidmet ist. Ja, auch Deutsche oder Schwaben können das zumindest mal versuchen. Kein Handy, nichts arbeiten, nicht streiten. Apart auf dem Lago herumstehen, sich am Anblick der anderen Seeherumsteher erfreuen. Ein Bad nehmen. Abends zusammen an einem langen Tisch hocken. Gut essen, gescheit trinken. Einfach so Leben. Dolle Sache. Andere vielleicht so lassen, wie sie sind. Das ist manchmal schwer, schon klar. In der Gruppe mit Gleichgesinnten und traumhaften Seeschwebern klappt’s am besten.

Die Gemüse- und Schwabenkreuzerinsel Reichenau. Hinten Konstanz, linker Hand der Gnadensee
Die Gemüse- und Schwabenkreuzerinsel Reichenau. Hinten Konstanz, linker Hand der Gnadensee © Achim Mende / Internationaler Bodensee Tourismus

Das möchte auch Michael Dargel aus Allensbach, einer Ortschaft auf der deutschen Seite des Untersee. Das ist der idyllisch verzweigte Bodenseeabschnitt zwischen Konstanz und Stein am Rhein, wo das Schwabenmeer dann Richtung Holland abfließt. Insider nennen die Gegend „badische Riviera“. Sanfte Hügel, Obstbäume, Wiesen, Weinberge, Klöster, Kirchen. Zauberhaft.

Dazwischen der See mit der Gemüseinsel Reichenau, wo seit 1967 bei Familie Winterhalter diese herrlichen Boote neu entstehen. Friedrich Winterhalter hat mir einmal erzählt, wie er damals seine erste „Bijou“ in Feierabendarbeit baute. Damals gab es die 5-Tage-Woche mit jedem 2. Samstag frei. Astgabeln mit dem idealen Faserverlauf für die Knie der Rumpf-Deck-Verbindung holte Winterhalter aus dem Wald. Eine beeindruckende, eine schöne schwäbische Schaffergeschichte. Das Meisterstück wird der Prototyp einer ganzen Flotte von Schärenkreuzern, die seit 1971 dann mit bezahlbaren und pflegeleichten Kunststoffschalen bei der Werft Beck & Söhne entsteht.

Warum ich das alles erzähle? Nun, auch Märklinlandschaften werden von Menschen bewohnt, die das Glück, in paradiesischen Umständen zu leben, auf seltsame Weise nutzen. So machen seit 2013 einheimische Strippenzieher mit deutscher Gründlichkeit, einer Prise Hinterfotzigkeit, gepaart mit alemannischem Starrsinn dem Dargel das Seglerleben schwer.

Wenn der Vermesser niemals kommt

Damals macht Dargel einen alten 30er Schärenkreuzer vom Vierwaldstättersee zurecht. Das Boot heißt „Aquilon“ und ist der regional zuständigen „Internationalen Vereinigung der 30 Quadratmeter Schärenkreuzer Klasse e. V.“ schon lange bekannt. Wie Dargel unterstützt von ungarischen Liebhabern später herausfindet, entstand es 1941 nach Plänen von Jenö Benacsek und gelangte bald in die Schweiz.

Fährt auch in der Halle stehend: Aquilon
Fährt auch in der Halle stehend: Aquilon © Michael Dargel

Damit Dargel mit seiner Antiquität Regatten segeln und abends mit Gleichgesinnten essen und trinken kann, braucht er einen Messbrief. Einfach fünfe gerade sein lassen, zusammen segeln und sich freuen ginge vielleicht in anderen Ländern. Wir befinden uns am deutschen Ufer des Bodensee.

Deshalb wird Dargel mit seiner „Aquilon“ damals nicht einfach willkommen geheißen, sondern erst mal gefragt: Hast Du Papiere? Wer hat das Boot gebaut? Wo sind die Zeichnungen? Die hat Dargel damals noch nicht. Das ist bei der Herkunft und Baujahr des Bootes schwer. Er wusste seinerzeit bloß, dass er einen alten Dreißiger besitzt, viel Arbeit reingesteckt hat und damit gelegentlich mal bei Schärenkreuzer-Regatten mitmischen möchte.

Jedes Paradies hat seinen Preis

Für die Zulassung müsste der zuständige Vermesser Pascal Kuhn vorbeikommen. Da es sich unübersehbar um einen Oldtimer handelt, muss das Boot bloß den damals beim Bau, also anno 1941 gültigen Bestimmungen für Schärenkreuzer entsprechen. Aber Kuhn kommt erst gar nicht. Er weigert sich, das Boot zu vermessen. Warum, das kann Kuhn nicht erklären. Auch der Deutsche Segler-Verband, vertreten durch seinen Syndikus und Vizepräsidenten Andreas Löwe kann es nicht.

Die Vermessung von Thomas Larsson
Die Vermessung von Thomas Larsson © Thomas Larsson

Da es ohne Messbrief nicht geht, bittet Dargel die Yacht-Konstrukteurin und Klassiker-Spezialistin Juliane Hempel darum, das Boot zu besichtigen, Maße zu nehmen und eine Zeichnung zu machen. Sie bestätigt, dass es sich um einen 30er Schärenkreuzer handelt. Es wird ignoriert. Nun wird „Aquilon“ vom schwedischen Spezialisten Thomas Larsson aus der Heimat der Schärenkreuzer vermessen. Die Bestätigung, wonach es sich um einen Schärenkreuzer gemäß seinerzeitigen Bestimmungen handelt, muss lediglich von der deutschen Klassenvereinigung anerkannt werden.

Messbrief der Ungarischen Segler-Vereinigung
Messbrief der Ungarischen Segler-Vereinigung

Doch das interessiert die Strippenzieher vom Bodensee nicht. Sie haben neue Ideen, die Teilnahme des Bootes an Regatten zu verhindern. Im Juli 2021 versuchen sie mit gezielten Satzungsänderungen und Druck auf die Veranstalter des Peri-Cups in Lindau und des Toto-Lotto-Cups in Radolfzell „Aquilon“ auszuschließen.

Für den Deutschen Segler-Verband „irgendein Holzboot“, kein Schärenkreuzer
Für den Deutschen Segler-Verband „irgendein Holzboot“, kein Schärenkreuzer © Michael Dargel

Die Angelegenheit seit 2014 beobachtend, erkundige mich neulich beim Deutschen Segler-Verband. In seiner Stellungnahme vom 15.1.22 behauptet Löwe, die Identität des Bootes mit der früheren Segelnummer Z, heute GER 19, sei ungeklärt. Auch müsse erst mal der Kiel vom Boot abgenommen und separat gewogen werden. Wozu so umständlich, wenn es einfach geht? Man macht das heute mit einer zerstörungsfrei-modernen Methode per Scan, Volumen- und Gewichtsberechnung.

So geschieht es in anderen Klassen auch. Die Klassenvereinigung und der DSV möchten das Boot partout nicht zulassen. Warum nicht, darauf hat Löwe keine Antwort. Dabei vertritt der DSV die Interessen aller Segler, theoretisch auch die von Michael Dargel. Als übergeordnete und unparteiische Organisation müsste der Verband auf die Klassenvereinigung mäßigend einwirken. Der DSV ist verpflichtet, für eine Bootsvermessung zu sorgen.

Auch Dargels Spinnakerbaum hält viel aus
Auch Dargels Spinnakerbaum hält viel aus © Michael Dargel

Im März 22 hat Dargel es satt. Er reicht beim Amtsgericht Konstanz Klage ein. Dass sich Rechtsanwälte und Richter mit Finessen gehobener Freizeitgestaltung der Schärenkreuzersegler befassen, das gab es schon mal. In den Achtzigerjahren zeichnete Friedrich Judel eine moderne Interpretation des Bootstyps. Schärenkreuzer sind eine Konstruktionsklasse, wo innerhalb gewisser Grenzmaße und gemäß ergänzenden Bauvorschriften das schnellstmögliche Boot segeln kann. So wurde das Judelsche Boot vom schwedischen Schärenkreuzer-Dachverband SSKF als Schärenkreuzer anerkannt. Aus Sorge um die Konkurrenzfähigkeit des seit 1971 am Bodensee tatsächlich als Einheitsklasse gebauten Schwabenkreuzers schloss die süddeutsche Klassenvereinigung das Boot von Regatten aus.

Der Streit wurde ernsthaft alle Treppen aufwärts bis zum Bundesgerichtshof ausgefochten. Dieser entschied die Angelegenheit am 12.3.1990 mit dem sogenannten „Schärenkreuzer-Urteil“ (BGHZ 110,323 ff.). Die sogenannte „Contra-Affäre“ wurde über den Bodensee hinaus, von schwedischen und ungarischen Seglern mit Kopfschütteln beobachtet. Solche Verkniffen- und Verbissenheit gibt es sonst beim America’s Cup, wo der Supreme Court bereits mit Segelsachen beschäftigt wurde. Das Urteil selbst wurde 1995 Gegenstand einer 401-seitigen Habilitation von Mathias Habersack an der Universität Heidelberg. Sie liest sich nicht direkt wie ein Pixibuch.

Aquilon beinahe klar zum Ablegen
Aquilon beinahe klar zum Ablegen © Michael Dargel

Schären- oder Schwabenkreuzer?

Für die Kosten hätte man ein neues Boot bauen können. Der Vergleich auf dem Wasser zeigte, dass „Contra“ langsamer eine Bijou-Schäre ist. Dennoch - doppelt hält besser - lässt die Klassenvereinigung neue Boote nur noch als Bijou-Typ zu. So gibt es neben dem Schärenkreuzer als ursprünglich schwedische Konstruktionsklasse eine Bodensee-Einheitsklasse, den Schwabenkreuzer. „Aquilon“ aber müsste als Klassiker problemlos zugelassen werden. Dazu müsste sich die Klasse nur an ihre eigenen Regeln halten. Es gibt in Süddeutschland kaum noch Neubauten oder Zugänge aus anderen Revieren. Wie die Meldungen zu Bodenseeregatten zeigen, stagniert die Flotte. Man könnte sich über jeden 30er freuen. Doch die Strippenzieher halten Kurs.

Klaus Röder von Carpe Diem Yacht Design hat sein Studium mit einer Diplomarbeit über Schärenkreuzer abgeschlossen. Seinen Erkenntnissen zufolge steht der Aufwand zur Entwicklung eines unter Umständen etwas schnelleren Dreissigers in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Allein die Messreihen und Optimierungen würden so teuer wie ein neues Boot. Es wäre marginal, auf dem Wasser kaum spürbar schneller. Demnach ist aus fachlicher, aus konstruktiver und yachtbaulicher Sicht das Festhalten an der Einheitsklasse falsch.

Mitte September findet vor Konstanz der Europacup der Dreißiger Schärenkreuzer statt. Er ist die Weltmeisterschaft der Klasse. Sie wird alle zwei Jahre abwechselnd in Schweden und am Bodensee gesegelt. Damit mit marginal unterschiedlichen Booten nach schwäbischer, schwedischer und ungarischer Vermessung gesegelt werden kann, drücken die Schwaben für vier Tage das eine oder andere Auge zu. Bei Dargel nicht. Die Strippenzieher versuchen den Termin beim Amtsgericht (Aktenzeichen 4 C 127/22) so zu legen, damit „Aquilon“ nicht starten kann.

Aquilon auf dem Untersee vor Radolfzell
Aquilon auf dem Untersee vor Radolfzell © Michael Dargel

Eine, zwei oder drei Windstärken?

Das wichtigste zum Schluss: Wussten Sie, welches Glück die federleichten Planken bei mehr als Nichts bescheren? Ab einer halben Windstärke, wo sich der See schon leicht riffelt, nehmen Sie an der Pinne hockend Witterung auf. Hat sich der Hauch einer konstanten Brise Richtung Zwei verstetigt, schweigt und genießt jeder an Bord. Bei Drei geht die Segelsause los. Ich kenne kein zweites Boot, das auf der Reibfläche des Wassers solchen Einklang mit dem Wind herstellt.

Jetzt sind Ihnen der seltsame Vermesser, die Strippenzieher, der überforderte Verbandsjurist, die teils anonymen Anrufe, Ausreden, Briefe, Drohungen, die Mails, WhatsApp-Nachrichten und SMS, der endlose Klüngel, sogar der fehlende deutsche Stempel auf dem Messbrief komplett Wurst.

Tipps zum Kauf eines gebrauchten Schärenkreuzers

  • es gibt mehrere Klassen, beispielsweise den ähnlich großen, aktiv gesegelten 22er, wo es anders zugeht.
  • zum Einstieg empfiehlt sich auch der 15er. Er ist etwa so groß wie ein Drachen, allerdings unter Deck eng. In einem 22er oder 30er kann man durchaus zu zweit übernachten.
  • am Starnberger See gibt es eine sehenswerte 40er-Flotte.
  • soll es aus Kostengründen kein Holzboot sein, ist der zahlreich gebaute Bijou-Typ mit pflegeleichtem Kunststoffrumpf interessant. Kosten Gebrauchtboot je nach Alter und Zustand 35 - 75 Tsd. Euro (u.U. einschließlich Trailer).
  • beim 30er ist die Festlegung auf eine bestimmte Konstruktion (Bijou) einmalig. Achten Sie daher auf die Formalitäten. Gibt es einen Messbrief? Oder Sie verzichten halt auf Regatten. Es gibt viele 30er-Segler, die ihre wertvolle Freizeit mit der Familie oder Freunden einfach so genießen und sich dann erholt anderen Themen widmen.

Weiterführende Links

VG