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Seemannschaft6 min Lesezeit

Kompass der Lüfte

Die Navigation nach dem Vogelflug – eine längst vergessene Orientierungshilfe auf See.

Kompass der Lüfte
Vögel über dem Meer © Pixabay/cocoparisienne

Die ornithologische Navigation – eine längst vergessene Orientierung auf den Meeren. Kurzer Abriss eines faszinierenden Kapitels der Seefahrt.

Von Michael Kunst, veröffentlicht am 04.09.2017, aktualisiert am 01.03.2023

Das erwartet Sie in diesem Artikel
  • Vögel als Späher und Orientierungshilfe auf See.
  • Über Jahrtausende hinweg halfen Vögel bei der Entdeckung neuer Länder.
  • Die Südsee-Völker kannten sich mit dem Vogelflug besonders gut aus.
  • Ein Land-spähender Rabe hat es sogar auf einer Briefmarke geschafft hat.

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«Und der Zweite der gesandten Vögel kam mit einem Ölzweig im Schnabel zurück. Sieben Tage später ließ Noah erneut eine Taube in den Himmel aufsteigen und verfolgte ihren Flug bis zum Horizont. Sie kehrte nie wieder zurück. Das Zeichen für einen Rückgang der Sintflut war gegeben!» Wer erinnert sich nicht an diese buchstäblich fabelhafte Schilderung aus dem Alten Testament, die uns als Kinder in der Schule vom Religionslehrer so gerne erzählt wurde. Erst rettet er die gesamte Fauna vor dem Untergang, dieser clevere Noah. Und dann überzeugte er auch noch als besonders schlauer Fuchs, weil er die Idee mit den Vögeln hatte, die für ihn nach Land suchen sollten.

Nur dass ebendieser vermeintlich geniale Einfall mit den fliegenden Kundschaftern (in manchen Überlieferungen, Übersetzungen und Versionen des Alten Testaments übrigens auch Raben und sogar Kraniche) keineswegs auf Noahs «Mist gewachsen war». Ganz im Gegenteil, er bediente sich einer seit Urzeiten allen Seefahrern bekannten und vertrauten Version der Navigation.

Vögel, die zuvor wochen- und monatelang in Käfigen eingesperrt waren und auf hoher See plötzlich in die Freiheit entlassen werden, setzen erstmal alles daran, so weit wie möglich von diesem Gefängnis-Kahn wegzukommen. Also steigen sie so hoch sie können auf, um bestmögliche Rundumsicht zu erhalten. Werden sie oben landfündig, fliegen sie logischerweise in Richtung ihres zukünftigen Paradieses. Dass sie dabei sorgfältig von den Menschlein auf ihrem Kahn unter ihnen beobachtet wurden, dürfte den Vögeln ziemlich schnuppe gewesen sein.

Seit Urzeiten über den Weltmeeren

Die Navigation mithilfe von Vögeln ist tatsächlich eine der ältesten Formen der Orientierung auf Hoher See. Viele Archäologen und Anthropologen behaupten sogar, dass sie über Jahrtausende hinweg im Zusammenspiel mit anderen, heute rudimentär erscheinenden, in der Praxis und im Mix aber höchst präzisen Navigationshilfen eine unverzichtbare Orientierungsmöglichkeit der Seefahrer gewesen war.

Gefiederte Langstreckenflieger zählten bei allen großen Seefahrervölkern über zwei Jahrtausende hinweg sozusagen zur Stammcrew. Sumerer, Griechen, Phönizier, Chinesen und Inder, aber auch die Wikinger vertrauten in kritischen Situationen ihren verlässlichen Landfindern Schiff und Mannschaft an.

Wichtigster Landspäher – der Rabe
Wichtigster Landspäher – der Rabe © Pixabay/Jnichols21

So wurde etwa im alten Orient «unsere biblische» Sintflut bereits 1800 Jahre vor unserer Zeitrechnung beschrieben. Damals wurden demnach drei Vögel hintereinander losgeschickt, um ein Ende der Flut zu erkunden. Taube und Schwalbe kehrten zurück, erst der Rabe blieb hinter dem Horizont verschwunden und kündete so von einem Stück begehbaren Landes in weiter, aber doch erreichbarer Ferne.

Den indischen und chinesischen Seefahrern hatten es vorwiegend die Tauben angetan. In alt-buddhistischen Schriften und bei Konfuzius werden sie einerseits als verlässliche Kuriervögel gefeiert, aber auch als klassische Landfinder für mehr oder weniger verzweifelte Seefahrer, die seit zu langer Zeit kein Festland mehr erblickt hatten. Oder sich orientierungslos zu weit in unbekannte Gewässer vorgewagt hatten.

Nordische Seefahrer wie die Wikinger und Iren vertrauten hingegen, wie die Phönizier und Sumerer besonders gerne den Raben. Die flugausdauernden, schon damals als besonders intelligent eingeschätzten Vögel, sollen beispielsweise bei der Entdeckung Islands maßgeblichen Anteil gehabt haben. Seefahrer Floki Vilgeroarson, gerne auch als Raben-Floki bezeichnet, soll drei dieser Landspäher an Bord gehabt haben und ließ sie bei seiner Reise von den Shetland Inseln aus immer wieder aufsteigen. Bis einer der drei Raben Richtung Nordosten geflogen war und nicht wieder zurückkam.

In Island hat es der Landspäher Rabe sogar auf eine Briefmarke gebracht
In Island hat es der Landspäher Rabe sogar auf eine Briefmarke gebracht © Island Post

«Freie» Vögel

Wahrscheinlich hatten Vögel als frei lebende Tiere jedoch einen weitaus bedeutenderen Anteil an der Navigation, weil sie in den Lüften von den Seeleuten über Generationen hinweg beobachtet wurden. Alle Seefahrervölker der Welt nutzten ihr Wissen über Vögel, um etwa zu erkennen, wie weit sie von der nächsten Küste entfernt waren oder sogar welche Küste vor ihnen lag.

So geht etwa die Legende, dass die Portugiesen die Azoren nur entdeckten, weil sie plötzlich mitten auf dem Meer Habichte im Himmel ausmachten. Dass dies auf der atlantischen Inselgruppe besonders häufig vorkommende Bussarde waren, hinderte die Seefahrer nicht daran, die Inseln dennoch nach den imaginären Habichten (acores) zu benennen.

Und selbst bei der «Entdeckung» Amerikas durch Christoph Kolumbus spielten Vögel eine wichtige Rolle. Kolumbus hatte zwar keine fliegenden Späher an Bord, trug aber gewissenhaft jede Vogelsichtung während seiner Reise über den Atlantik in sein Logbuch ein. Bis Vögel auftauchten, die ihm unbekannt erschienen. Und immer wieder in Richtung Westen davon flogen.

Die ganz großen ornithologischen Navigatoren lebten auf der anderen Seite der Weltkugel. Die seefahrenden Völker des Pazifiks nutzten vor mehr als Tausend Jahren Vögel und ihren Flug als eines der wichtigsten Instrumente für ihre bis heute faszinierende und übrigens noch nicht vollständig aufgeklärte Besiedlung der riesigen Seeräume des Pazifiks.

Ihre ohnehin geheimnisvolle Art der Navigation ist für Anthropologen und Archäologen Anlass genug für unzählige Studien, Essays und Forschungen. Polynesische Seefahrer träumten ihre Routen, berauschten sich vermutlich während der Seereisen an der psychoaktiven Kawawurzel (noch heute als das LSD Polynesiens bekannt) und schufen dank gesteigerter Wahrnehmungskräfte fantastische Gedankengebäude. Die sie sicher über die Meere zu Inseln mitten in den unendlichen Weiten der Südsee brachten.

Geträumte und gesungene Seekarte der Polynesier – alles klar?
Geträumte und gesungene Seekarte der Polynesier – alles klar? © Museum of Polynesian History

Sie dokumentierten die Navigation ihrer Reisen in mystischen Gesängen und auf geheimnisvollen Zeichnungen und Gebilden aus kleinen Stäben, Muscheln, Sand. Immer wieder erscheinen Vögel als bindendes Element in dem großen Puzzle oftmals kaum zu interpretierender, altertümlicher Navigationsinformationen. Vögel, die bis heute die Südseeinseln bevölkern, aber auch Vogelarten, die längst ausgestorben sind. Immer wieder sind es freie, hoch über ihnen segelnde Vögel, die den Reisenden die nahen oder fernen Inseln ankündigen. Und selbst an die Dressur mancher erfahrungsgemäß erfolgreicher «Späher-Vogelarten» wagten sich die Polynesier.

Federn, die eine ganze Kultur veränderten

Überhaupt spielten Vögel in der Mythologie und in den Fantasien der Südseevölker eine maßgebliche Rolle. Wenn sie auch keineswegs als «heilige Tiere», wie etwa die Kühe bei den Hindus, verehrt wurden. Über Jahrhunderte hinweg galten die faszinierend bunten und formenreichen Federn vieler Vogelarten als eine Art Zahlungsmittel und als wertvoller und mystischer Schmuck.

Also machte man sich zur «Geldbeschaffung» einfach mal zu benachbarten Eilanden auf und rupfte dort allem, was Federn hatte, dieselben aus. Die buntesten Arten, die nur auf vereinzelten Inseln vorkamen, wurden aufgrund ihrer Seltenheit gleich ausgerottet. Andere wiederum derart stark dezimiert, dass ihre natürliche Reichweite logischerweise stark eingeschränkt war.

Manche Wissenschaftler gehen mittlerweile sogar davon aus, dass diese fatale Reduktion der Vogelwelt im Pazifik der Grund für ein kulturhistorisches Phänomen gewesen ist, das bis heute die Wissenschaftler beschäftigt. So ließen Handel und kultureller Austausch zwischen den teils weit voneinander entfernt liegenden Inselgruppen der Südsee in (unserem) 14. und 15. Jahrhundert plötzlich schlagartig nach.

Es könnte sein, dass der Grund hierfür die ausgestorbenen oder stark reduzierten Vogelbestände auf den Inselgruppen waren. Denn wenn Vögel, die in alten Gesängen, Traumszenarien oder mythischen Schriften eine richtungsweisende Rolle gespielt haben, nun nicht mehr in der Luft zu finden waren… wer sollte dann die Wege von Insel zu Insel wiederfinden?

Auf allen Reisen der Polynesier waren Vögel die wichtigsten Lotsen
Auf allen Reisen der Polynesier waren Vögel die wichtigsten Lotsen © Museum of Polynesian History

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