Bootsarten5 min Lesezeit
Retrodaysailer - Raffinierter Mix
Über gestrigen Charme und heutigen Yachtbau

Segler mit wenig Freizeit kennen die Vorzüge des Daysailers, eines handlich-kleinen Bootes, mit dem man abends mal unter der Woche, am Samstagnachmittag oder Sonntag ein paar Stunden segeln kann.
Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 26.10.2015
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- Woher der charmante Look stammt
- Wie die traditionelle Anmutung mit heutigen Erwartungen in Einklang gebracht wird
- Die Vorstellung von vier Daysailern im Retrostil
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Diesen Bootstypen, der bereits hier einmal als Nachmittagsboot (Zur Sache kommen ) vorgestellt wurde, gibt es vom pflegeleicht-preiswerten Untersatz über sportliche und betont moderne Varianten bis hin zum noblen Retroschlitten.
Letzterer ist die vielleicht schönste Version der als Ob-Klassiker. Mit ihrem senkrechten, das Wasser durchschneidenden Vorsteven und gestreckt aus dem Wasser gehobenen, in einem traditionell geneigten Spiegel endenden Heck ist er vom englischen Lotsenkutter inspiriert. Seit den 1990ern sind moderne große Yachten mit dieser archetypischen Anmutung unterwegs.
Sie ist herrlich von gestern und im Grunde so obsolet wie die 1855 eingeführte Themse Tonnage Vermessung, die wiederum auf eine seit Mitte des 17. Jahrhunderts gültige Besteuerung von Frachtseglern zurückgeht. Die Themse Vermessung verrechnet die Länge - gemessen zwischen dem Vorsteven und dem Heckbalken - mit der Rumpfbreite.
Da die Segelfläche unberücksichtigt blieb, wurde diese Lücke natürlich genutzt. Die Yachten der Themse Vermessung wurden mit dem damaligen Stand der Technik gründlich aufgetakelt: mit langen Klüverbäumen oder ausfahrbaren Bugspriets. Der Mast der Rennkutter stand weit vorne im Schiff und trug ein riesiges Großsegel. Auch vorne wurde über den Vorsteven hinaus gesetzt, was ging.
Als der Yachtbau auf die Retrowelle setzte und die ersten als Ob-Klassiker in diesem Look, mit modern flachem Unterwasserschiff, Kiel- und Ruderkonfiguration entstanden, wurde die Anmutung der antiquierten englischen Kutter übernommen.
Im Unterschied zum historischen Vorbild sind die modernen Boote aber keine langkielig schweren und schmalen Schiffe, sondern leichte, formstabil U-spantige Konstruktionen, die mit vergleichsweise wenig Segelfläche auskommen.
Obwohl der über den Bug hinaus ragende Klüverbaum beim Anlegen oder Ankern stört, bietet er dem Konstrukteur wie damals die Möglichkeit, die Segel- mit der Lateralfläche auch beim weit vorn stehenden Mast auszutarieren. Das ist außer dem antiquierten Aussehen ihr einziger Vorzug.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser bei großen Neubauten gern gesehene Look auf kleinere Boote übertragen wurde. 2008 präsentierte die monegassische Marke Wally ihre vielbeachtete „Wallynano“ in kessem Rosa. Sie war als Einsteigermodell zur Range avantgardistisch großer Wally-Yachten gedacht und mit den stilisierten Ausschnitten in der achtern umlaufenden Schanz eine moderne Interpretation des Kutter-Looks. Leider überzeugte das zunächst in der Türkei und Italien gebaute Boot qualitativ nicht, sodass es bei drei Exemplaren blieb. Derzeit versucht sich die holländische Doomernik Werft an einer Mark II Version des Modells.
Die 2012 vorgestellte „Essence 33“ ist weitgehend das gleiche Boot des gleichen holländischen Konstrukteurs Andre Hoek, aber aufwändiger, mit großem Rad statt Pinne und entsprechend schwerer ausgestattet.
Die Flyer 33 des holländischen Konstrukteurs Gerard Dykstra wurde Januar 2015 auf der Düsseldorfer Bootsmesse vorgestellt und ist konsequent auf ihren Zweck zugeschnitten: Ein pflegeleichtes Gfk-Serienboot, mit Pinne und ohne Klüverbaum unterwegs und segelfertig mit 123.140 € zuzüglich MwSt. das günstigste Beispiel der hier vorgestellten Retro-Daysailer.
2013 haben sich das angesehene Bremerhavener Konstruktionsbüro Judel/Vrolijk & Co und die Hamburger Lütje Werft mal mit dem Bootstyp beschäftigt und ihn auf ihre Weise - modern und zweckmäßig - auf den Punkt gebracht. Das Ergebnis ist die soeben fertig gestellte „Lütje 35“. Sie ist vom markanten Vorsteven bis zum traditionell geneigten Heck 10,80 m lang und ohne Klüverbaum unterwegs. So lässt sich mit dem Boot vorwärts anlegen und über den Bug auf den Steg gehen. Auch beim Ankern gibt es keinen störenden Vorbau. Außerdem streckt diese Machart die Proportionen und auch die Wasserlinie.
Einen eigenen gestalterischen Weg gingen Judel/Vrolijk und Lütje auch beim Aufbau. Er hat deutlich mehr Volumen und damit Lebensraum unter Deck als die zuvor genannten Typen: unter anderem zwei wirklich benutzbare 2,20 m Kojen im Salon. Licht unter Deck und Blickkontakt nach draußen bietet das Skylightband aus getöntem Acryl. Clever verpackt ist das schön gearbeitete Mahagonideckhaus mit den markant weißen Schultern. Ein Designerstück.
Sehenswert ist es auch von achtern, wo es als formschön gerundeter Kubus in die Plicht ragt. Unter dem geschlossenen Schiebeluk bietet die „Lütje 35“ annähernd Stehhöhe. Obwohl das Boot fürs Auge und zum Genußsegeln entstand, bietet es eine komplette Pantry mit Kühlbox, Herd, Spüle, eine Navigationsecke und einen richtigen Salon. Das Vorschiff vor dem Hauptschott blieb abgesehen vom Kleiderspind und WC leer. Diese Annehmlichkeiten sind nicht nur pro forma vorhanden. Sie sind nicht zuletzt dank der Höhe und der zweckmäßigen Unterbringung überhaupt benutzbar.
Wer mit der sperrig großen Radsteuerung hadert, bestellt und segelt es einfach mit der bewährten Pinne. Mehr Boot als solch einen raffinierten Mix aus Tradition und Moderne braucht es eigentlich nicht. Und sollte es abends mal spät werden, schaltet man einfach die geschickt versteckten LED Positionslaternen an oder ankert.
Die 280 Amperestunden der „Lütje 35“ sollten fürs Ankerlicht und den Betrieb der Kühlbox reichen. Nach schönen Segelstunden ist es Zeit für einen richtig temperierten Weißwein oder ein kühles Bier.
Eigentlich ist die „Lütje 35“ mehr als ein Daysailer mit pro forma Interieur. Sie ist ein törntauglicher Weekender für verbummelte Tage im Maddalena Archipel, die Espalmador Bucht bei Formentera oder eine Odyssee durch die dänische Südsee.
Natürlich gibt es heute für rund 300 Tausend Euro mehr Schiff, aber schwerlich ein schöneres.